Wege, die man nicht vergißt. Dietmar Grieser
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Tumult in der Fahnengasse (Blick auf den Balkon des Palais Caprara-Geymüller)
Doch bevor er noch seine Zelte in Autriche abbricht, kommt’s zum großen Krach – einem Krach, der bei unkontrollierterem Umgang mit den beiderseitigen Emotionen leicht zu einem neuen Krieg zwischen Österreich und Frankreich hätte führen können.
13. April 1798. Es ist der Tag, an dem Österreich seiner bei den Kämpfen gegen Frankreich gefallenen Soldaten gedenkt. Auch Bernadotte gibt an diesem Abend in seiner Residenz eine Gesellschaft. Einer Order aus Paris folgend, antwortet er auf die Heldengedenkfeiern der Österreicher mit einer beispiellosen Provokation: Er läßt gegen 20 Uhr auf dem Balkon des Palais Caprara-Geymüller die Trikolore hissen. Zwei Meter mißt das blauweißrote Tuch, das da im Abendhimmel flattert. Passanten, die auf dem Heimweg durch die Wallerstraße des unerhörten Vorgangs gewahr werden, brechen in Wutgeschrei aus, rufen andere Protestierende zusammen, werfen Steine gegen das Gebäude. Einem jungen Mann aus der aufgebrachten Menge gelingt es sogar, an der Fassade hinaufzuklettern, die Fahne herunterzureißen und anzuzünden. Das Toben der Volksmenge steigert sich noch, als Bernadotte auf den Balkon hinaustritt und die Demonstranten als Pöbel beschimpft – selbstverständlich auf französisch. Und während ein Teil der Randalierer zur nahen Hofburg zieht, um dort die Asche der verbrannten Fahne zu verstreuen und in Sprechchören Kaiser Franz ihre Treue zu geloben, stürmen die am »Tatort« Verbliebenen das Botschaftsgebäude, dringen bis in einige der Innenräume vor und plündern die an Vorräten französischer Delikatessen reiche Küche. Inzwischen hat der Hausherr unter seine im Obergeschoß weilenden Gäste in aller Eile Säbel ausgeteilt, auch Pistolenschüsse fallen, Adjutant Gérard stellt sich schützend vor seinen Gebieter und rettet Bernadotte das Leben. Fünf Stunden dauert der Spuk – erst nach der zweiten an den amtierenden Außenminister Franz Maria Freiherr von Thugut adressierten Depesche greift das aus einer nahegelegenen Kaserne herbeigerufene Husarenkommando in der Wallerstraße ein und zerstreut die tobende Volksmenge.
Für Bernadotte, der in dem Vorfall eine klare Verletzung des Völkerrechts erblickt, steht fest: Er wird Wien auf schnellstem Wege verlassen, da hilft auch das hochnotpeinliche Entschuldigungsschreiben der österreichischen Regierung nichts mehr. Der zutiefst gekränkte Botschafter verlangt Pässe für sich und sein Gefolge, und statt der von österreichischer Seite geäußerten Bitte Folge zu leisten, ohne Aufsehen und im Schutz der Dunkelheit auszureisen, läßt er die fünf Kutschen justament zur Mittagsstunde vor dem Palais Caprara-Geymüller vorfahren und sich und die Seinen, im Schmuck ihrer mit Trikolore-Federn »gekrönten« Hüte und von tausenden die Straße säumenden Wienern mit Schmährufen bedacht, außer Landes bringen. Noch Tage danach ist der Wiener »Fahnentumult« das beherrschende Thema der europäischen Gazetten; in Paris wird sogar erwogen, die »Schandtat« der Österreicher mit einer neuerlichen Kriegserklärung zu ahnden.
Was das weitere Schicksal Jean Baptiste Bernadottes betrifft, so tritt der aus der Kaiserstadt Verjagte schon am 27. Mai seinen nächsten Posten an: Er geht als Napoleons Gesandter nach Den Haag. Seine künftige Karriere wird Stufe für Stufe die allerhöchsten Höhen erreichen: Unter dem Namen Karl XIV. Johann wird der dann 55jährige Bernadotte 1818 den Thron des Königreichs Schweden-Norwegen besteigen und damit die bis heute anhaltende Tradition der Schwedenkönige aus dem Hause Bernadotte begründen, bis herauf zum seit 1973 regierenden, mit der ehemaligen deutschen Olympia-Hosteß Silvia Sommerlath verehelichten Karl XVI. Gustav.
Doch zurück nach Wien, wo das Spektakel vom 13. April 1798 noch hundert (!) Jahre danach sichtbare Folgen zeitigt: Die an die Wallerstraße angrenzende Brunnengasse wird zur Erinnerung an den »Fahnentumult« in Fahnengasse umbenannt. Und was den Schauplatz des denkwürdigen Ereignisses anlangt, so versäumen die Wiener Lokalhistoriker auch nicht, darauf hinzuweisen, daß mit der Geschichte des Palais Caprara-Geymüller nicht nur diplomatische Verwicklungen, sondern auch Amouröses verknüpft ist: Hier lernt im Winter 1820/21 Franz Grillparzer seine »ewige Braut« Kathi Fröhlich kennen, deren sieben Jahre ältere Schwester Anna den Töchtern des nunmehrigen Hausherrn Johann Heinrich Freiherr von Geymüller Klavierunterricht erteilt.
Not, Gemeinheit, Mord
Hugo Bettauer und »Die freudlose Gasse«
Wien, Herbst 1923. Die Erste Republik hat ihre zweiten Nationalratswahlen hinter sich: Die Christlichsozialen erhalten 82 Mandate, die Sozialdemokraten 68, die Deutschnationalen 15, Prälat Seipel bleibt Kanzler. In der Bundeshauptstadt ist das Kräfteverhältnis genau umgekehrt: Der Sozialdemokrat Karl Seitz tritt sein Amt als Bürgermeister an; der Gemeinderat beschließt das ehrgeizige Wohnbauprogramm des Roten Wien, das die Errichtung von 25 000 Sozialwohnungen binnen fünf Jahren vorsieht. Die Zahl der Arbeitslosen hat die 50 000 überschritten, die Inflation erreicht ihren Höhepunkt, 40 000 Kronen zahlt man für ein Kilo Schweinefleisch. Allenthalben schießen Bankfilialen aus dem Boden, vor den Wechselstuben bilden sich Menschenschlangen, die die täglichen Kurszettel studieren, in den Tanzbars amüsieren sich die Spekulanten, »Radio Hekaphon«, Österreichs erster Rundfunksender, verbreitet die Stimmen von Burgschauspieler Raoul Aslan und Bundespräsident Michael Hainisch, Arthur Schnitzler tritt an die Spitze der frischgegründeten Österreich-Sektion der Schriftstellervereinigung PEN.
Am 17. Oktober 1923 kündigt das Wiener Nachrichtenblatt »Der Tag« einen neuen Fortsetzungsroman an: »Die freudlose Gasse«. Autor ist der 51jährige Hugo Bettauer, der schon im Jahr davor mit seinem Bestseller »Stadt ohne Juden« für Aufsehen gesorgt hat. Selber Jude, doch mit 18 zum Protestantismus konvertiert, greift er in seiner makabren »Zukunftsversion« eines der Themen der Zeit auf: den bedrohlich um sich greifenden Antisemitismus, der »die Juden« für die triste Wirtschaftslage der Republik verantwortlich macht. 250 000 Exemplare setzt der Buchhandel von dem heftig umstrittenen Roman ab, in dem sich nicht nur das »arische Wien« attackiert sieht: Auch der Sache der Juden wird mit Bettauers klischeegespickter Darstellung ein Bärendienst erwiesen.
Nun also »Die freudlose Gasse«: Auch der vom 18. Oktober bis zum 16. Dezember 1925 im »Tag« vorabgedruckte und ein Jahr später in Buchform verbreitete »Wiener Roman aus unseren Tagen« ist ein echter Bettauer: Grelle Zeitschilderung, mäßig verschlüsselte Gesellschaftskritik und schwüle Erotik sind in flotter Erzählweise und anspruchsloser Sprache zu jenem Typ Kolportagestory zusammengemixt, der zu jeder Zeit auf das voyeuristische Interesse der Lesermassen rechnen kann.
Hauptfigur ist die junge Grete Rumfort: Typ der kleinen Sekretärin aus verarmter alt-österreichischer Offiziers- und Beamtenfamilie, die, den Lockungen eines prächtig florierenden Absteigequartiers heroisch widerstehend, in einen spektakulären Kriminalfall – Juwelendiebstahl und Mord – verstrickt wird, dessen überraschende Aufklärung in ein deus-ex-machinaartiges Happy-End mündet. Ort der Handlung ist ein kurzes Straßenstück im 7. Wiener Gemeindebezirk, in dem Kleinbürgertum und Nachkriegsnot, Parvenü-Luxus und Edelprostitution zu einer Art zeittypischem Großstadt-Mikrokosmos verschmelzen.
Aus den Wegbeschreibungen der Akteure ist unschwer abzuleiten, daß mit der »freudlosen Gasse« (die Autor Bettauer Melchiorgasse nennt) die damals wie heute unter dem Namen Neustiftgasse bekannte Verbindung zwischen Volkstheater und Lerchenfelder Gürtel gemeint ist:
»Wiens Entwicklung ist unorganisch, ohne Ziel und Zweck vor sich gegangen. Wien ist wohl die einzige Großstadt, die keine City, kein Wohnviertel hat, sondern ein Kunterbunt von Villen, Luxusbauten, Palästen, Mietkasernen, verfallenen Häusern, Baracken und Armeleutequartieren bildet. In ein und derselben Straße hausen Millionäre und Proletarier, stehen uralte niedrige Häuser mit Gärten und protzige fünfstöckige Talmipaläste mit Lift und Dampfheizung, Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert und abscheulich moderne Miethäuser mit ein- und zweizimmerigen Wohnungen für kleine Leute.«
So gesehen, repräsentiert die Melchiorgasse in Hugo Bettauers Augen die ganze Stadt:
»In