Wege, die man nicht vergißt. Dietmar Grieser
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Der Stummfilm »Die freudlose Gasse« wird ein Erfolg, der weit über den Tag hinausreicht: Keine deutsche Produktion hält sich so lange in den französischen Kinos wie »La Rue sans joie«, die Cineasten werden in späteren Jahren das Werk unter die Klassiker des Genres einreihen, die in Wiener, Berliner, Londoner und New Yorker Archiven gehüteten Kopien gelten als Kostbarkeiten, die Stadt München ist stolz darauf, das Original des Drehbuchs zu besitzen.
Doch zurück zu Hugo Bettauer. Daß seine Romane so enorm beim Publikum einschlagen, hat nicht nur mit seinem feinen Gespür für Stoffe zu tun, die den Leuten unter die Haut gehen, sondern auch mit seiner Manier, die Dinge klar beim Namen zu nennen, und das gilt nicht zuletzt für die von ihm verwendeten Schauplätze. Ob es der Hohe Markt oder die Gumpendorferstraße, der Arenbergring oder die Goldschmiedgasse, die Pötzleinsdorfer Herrschaftsvilla oder der Türkenschanzpark, das Hotel Bristol oder das Restaurant Eisvogel, Burgtheater oder Konzerthaus, der Trabrennplatz Krieau, das Landesgericht oder die Bellaria sind, die er an passender Stelle in die Romanhandlung der »Freudlosen Gasse« einfügt: Das Wiener Publikum, mit all den Örtlichkeiten vertraut, fühlt sich auf diese Weise ins Geschehen einbezogen, kann sich gleich viel leichter mit den Figuren identifizieren. Hinzu kommt, daß Bettauer auch, was den die Handlung beherrschenden Kriminalfall betrifft, auf ein tatsächliches Geschehnis zurückgreift, das kurz zuvor in der Wiener Presse Schlagzeilen gemacht hat. Eine der beteiligten Personen, Frau eines Bankdirektors, unternimmt sogar gerichtliche Schritte gegen die Verbreitung des Buches, ohne allerdings mit ihrem Begehren nach einstweiliger Verfügung durchzudringen.
Nur bei der Benennung des Hauptschauplatzes entscheidet sich der Autor für Verschleierung: Aus der Neustiftgasse macht er eine Melchiorgasse – wohl, um deren Ambiente zu neutralisieren, ins Allgemeine zu erheben. Daß seine Wahl auf ein Modell im 7. Wiener Gemeindebezirk fällt, dürfte damit zusammenhängen, daß er sich hier besonders gut auskennt: Seit 1914 in der Wallrißstraße im Nobelviertel von Währing ansässig, hat Hugo Bettauer zuvor in der Florianigasse gewohnt, also im Nachbarbezirk der »freudlosen Gasse«, und mit der Redaktion der von ihm gegründeten Wochenschrift »Er und Sie«, die ihren Sitz Lange Gasse 5–7 hat, wird er sogar noch näher an die Neustiftgasse heranrücken. Ein interessanter Straßenzug ist sie allemal: Hier hat Alexander Girardis skandalumwitterte Gattin, die Schauspielerin Helene Odilon, gewohnt, hier hat Otto Wagner, die Nr. 1 der Wiener Jugendstilarchitektur, eines seiner Häuser errichtet, und hier unterhält seit 1903 die nachmals weltberühmte »Wiener Werkstätte« ihre Ateliers. Übrigens gilt Bettauers Beschreibung der »freudlosen Gasse« mit gewissen Abstrichen noch immer: Gründerzeit und Jugendstil in wirrem Durcheinander. Sogar, was der Autor über den Status der Hausbesitzer von anno dazumal äußert, klingt da und dort bis heute an – etwa, wenn man auf einem der beim Portal angebrachten Klingelbretter die antiquierte Bezeichnung »Hausinhabung« lesen kann.
Es wird Zeit, ein paar Daten zur Biographie des Autors der »Freudlosen Gasse« nachzutragen – um so mehr, als die breite Öffentlichkeit mit dem Namen Hugo Bettauer heute kaum noch etwas anzufangen weiß. Am 18. August 1872 kommt er in Baden bei Wien zur Welt; der Vater stammt aus Lemberg, ist ein wohlhabender Börsenmann, stirbt jung. Der Hauptwohnsitz der Familie ist Wien, hier besucht Hugo das Franz-Joseph-Gymnasium an der Stubenbastei, im dritten und vierten Schuljahr sitzt er in einer Klasse mit dem anderthalb Jahre jüngeren Karl Kraus. Die Gründe dafür, daß er mit Erreichen der Volljährigkeit aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft austritt und sich evangelisch taufen läßt, liegen wie so vieles bei Bettauer im dunkeln. Der Dienst bei den Tiroler Kaiserjägern, zu denen er als Einjährig-Freiwilliger einrückt, ist ihm zu beschwerlich, auch kommt es zu Streitigkeiten mit den Vorgesetzten: Unser »Held« desertiert. Ein Semester Philosophie an der Universität Zürich, Eheschließung mit einer Jugendliebe, Tod der Mutter: Bettauer tritt das väterliche Erbe an. Auf der Fahrt nach Amerika verliert er sein Vermögen an einen Bankrotteur, und da er in den USA nicht so leicht Arbeit findet, kehrt er bald wieder nach Europa zurück, versucht sein Glück in Berlin. Heftige Angriffe gegen die Polizei, deren Chef er Korruption, Protektionismus und Unfähigkeit vorwirft, bringen ihn um seinen Posten als Lokalredakteur der »Berliner Morgenpost«: Wegen »Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit« wird der 28jährige »als lästiger Ausländer aus dem Gebiete des preußischen Staates ausgewiesen«. In München versucht sich Bettauer als Kabarettist, in Hamburg als Herausgeber des gastronomischen Fachblattes »Küche und Keller«.
Nach dem Scheitern seiner Ehe sogleich eine zweite eingehend, nimmt der inzwischen 31jährige neuerlich Anlauf auf die Neue Welt, und diesmal klappt es. Als Reporter der »New Yorker Staatszeitung« entdeckt Hugo Bettauer eine Marktlücke: Er schreibt Fortsetzungsromane für Amerika-Auswanderer aus dem deutschsprachigen Raum. Es ist schon der gleiche Typus zeitkritischer Kolportageliteratur, mit dem er ab 1920, unter Nutzung der aus Anlaß des Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs verkündeten Amnestie, nun wieder in Österreich ansässig, auch in der Heimat Erfolg haben wird. Vor 1914 als Wien-Korrespondent des »New Yorker Morgenjournals«, während des Krieges als Salonredakteur der »Neuen Freien Presse« und in den Nachkriegsjahren neuerlich für amerikanische Blätter tätig, macht er sich in der Folgezeit selbständig, schreibt bis zu fünf Romane pro Jahr, darunter »Die freudlose Gasse«, und entfesselt schließlich mit der Gründung und Herausgabe einer »Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik« einen solchen Proteststurm der Biedermänner, daß es seinetwegen zu wüsten Schlägereien im Wiener Gemeinderat, zur Beschlagnahme und Einstellung des Blattes und im September 1924 auch zu einer Anklage wegen Pornographie und Kuppelei kommt. Ausgerechnet sein unerwarteter Freispruch wird Bettauer zum Verhängnis: Die Medienhetze seiner nun erst recht wütenden Gegner aus dem nationalen Lager nimmt bald auch unverblümt antisemitische Züge an, ein arbeitsloser Hitzkopf stürmt das Redaktionsbüro von »Er und Sie« und streckt den »Schandliteraten« und »Kloakendichter« mit fünf Pistolenschüssen nieder, an deren Folgen der 52jährige zwei Wochen darauf stirbt.
Seiner drastischen literarischen Mittel wegen auch von wohlmeinenden Kollegen nie mit Samthandschuhen angefaßt (Anton Kuh wirft ihm »Anti-Courths-Mahler-Gesinnung in der Courths-Mahler-Sprache« vor), ist es kein Geringerer als Robert Musil, der in seinem Nachruf Hugo Bettauer gerecht zu werden versucht; er schreibt:
»Eine Zeit, welche nicht auf das Wort des Schriftstellers hört, sondern auf das Schlagwort, hob ihn in den Mittelpunkt eines Streites, dem er zum Opfer fiel. Impulsiv, empfänglich, hatte er die Gabe, das auszusprechen, was Tausende fühlten. Er sprach es genau in der Weise und mit den Mitteln aus, welche man heute anwenden muß, um zu wirken. Persönlich leitete ihn niemals das Verlangen nach persönlichen Vorteilen, denn dieses hätte der beliebte Schriftsteller viel bequemer befriedigen können, sondern es leitete ihn die ehrliche Überzeugung, zu bessern.«
Eine gute Marke
Die Phorusgasse
Nicht wenige der rund 12 000 Wiener Straßennamen geben dem Lokalchronisten Rätsel auf. Wie ist das, um ein Beispiel herauszugreifen, mit der Phorusgasse im 4. Bezirk, diesem kurzen Straßenstück zwischen Wiedner Hauptstraße und Mittersteig? Wer oder was steckt hinter diesem Namen? Eine Berühmtheit, die in den 140 Jahren seit jener Benennung durch den Wiener Gemeinderat (oder wie immer die dafür zuständige Instanz zur damaligen Zeit hieß) in Vergessenheit geraten ist? In keinem Lexikon wird man sie finden. Andere Spurensucher tippen vielleicht auf einen dunklen Zusammenhang mit einer Meeresgottheit aus der antiken Sagenwelt. Aber mitten im Binnenland der Wienerstadt? Auch der 280 vor Christus errichtete Leuchtturm von Pharos gibt diesbezüglich nichts her. Was also, verdammt noch mal, hat es mit diesem ominösen Phorus auf sich?
Um das Rätsel zu lösen, müssen wir uns in der Wiener Stadtchronik des Jahres 1824 umsehen.
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