Eine Geschichte von zwei Städten. Charles Dickens
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Eine Geschichte von zwei Städten - Charles Dickens страница 9
Er führte sie sanft nach ihrem Stuhl; hier blieb sie, ohne auf seine Berufung unmittelbar zu antworten, so ruhig sitzen, und ihre Hände, die noch immer seinen Arm umfaßt hielten, zeigten gegen früher eine so augenfällig erhöhte Stetigkeit, daß er wieder ein Herz faßte.
»Recht so, recht so. Nur Mut. Geschäft – es handelt sich um ein Geschäft, um ein belangreiches Geschäft. Miß Manette, Eure Mutter hat es in der angeregten Weise mit Euch gehalten. Und als sie starb – ich glaube an gebrochenem Herzen, weil sie nie in dem fruchtlosen Forschen nach Eurem Vater innehielt –, konnte die von ihr zurückgelassene Waise zu einem blühend schönen, glücklichen Wesen heranwachsen, ohne daß die schwere Wolke der Ungewißheit, ob sich die Kräfte Eures Vaters im Kerker früh verzehrten oder eine Reihe von Jahren hinsiechten, Euer Dasein trübte.«
Während er diese Worte sprach, blickte er mit mitleidsvoller Bewunderung auf das wallende Goldhaar nieder, als komme es ihm vor, daß es sich bereits mit Grau zu mengen beginne.
»Ihr wißt, daß Eure Eltern kein großes Vermögen besaßen, und daß es Eurer Mutter und Euch gesichert worden ist. Etwas Neues, Gold oder sonstiges Eigentum betreffend, kann ich Euch also nicht mitteilen, wohl aber die Kunde –«
Er fühlte einen festeren Druck an seinem Handgelenk und hielt darum inne. Der Zug auf ihrer Stirn, der ihm schon so sehr aufgefallen war, hatte den Ausdruck des Schmerzes und Schreckens angenommen.
»Daß er – daß er aufgefunden worden ist. Er lebt. Daß er sich sehr verändert hat, ist freilich nur allzu wahrscheinlich; möglich, daß wir nur noch eine Ruine in ihm finden: doch wollen wir das Beste hoffen. Er lebt noch. Man hat Euren Vater nach dem Haus eines alten Dieners in Paris gebracht, und wir sind auf dem Wege zu ihm – ich, um seine Identität zu bestätigen, wenn ich kann. Ihr, um ihm durch Liebe und Kindesdienst das Leben ruhig und behaglich zu machen.«
Ein Schauder überströmte ihren Körper und ging von ihr aus auf ihn über. Vernehmlich zwar, aber mit leiser und angstvoller Stimme, als rede sie im Traum, sprach sie:
»Ich gehe hin, um seinen Geist zu sehen! Es wird sein Geist sein, nicht er.«
Mr. Lorry rieb ruhig die Hände, die seinen Arm festhielten.
»So, so. Jetzt wär' es heraus. Von dem Besten und dem Schlimmsten seid Ihr nunmehr unterrichtet. Ihr befindet Euch auf dem Weg zu dem armen, schwer mißhandelten Herrn; noch eine schöne Seereise und eine schöne Landreise, und Ihr werdet an seiner Seite sein.«
In demselben Ton, aber noch gedämpfter, fuhr sie fort:
»Ich bin frei, ich bin glücklich gewesen; und doch ist mir sein Geist nie nahe gekommen.«
»Noch eines«, sagte Mr. Lorry mit Nachdruck, als sehe er darin das beste Mittel, Aufmerksamkeit zu erzwingen; »er ist unter einem andern Namen aufgefunden worden. Sein eigener wurde entweder seitdem stets verheimlicht oder vergessen. Es wäre schlimmer als nutzlos, darüber Nachforschungen anzustellen – schlimmer als nutzlos, ausfindig machen zu wollen, ob er diese lange Reihe von Jahren übersehen oder absichtlich gefangen gehalten wurde. Solche Nachforschungen würden jetzt zu nichts Gutem führen, sondern im Gegenteil gefährlich werden. Besser, man schweigt ganz und gar über die Sache und schafft ihn, jedenfalls für eine Weile, fort aus Frankreich. Sogar ich vermeide es, davon zu reden, obschon mich meine Nationalität sicherstellt, und Tellsons nehmen sich in acht, trotz ihrer Bedeutung für den französischen Kredit. Ich trage keinen Fetzen Papier bei mir, der eine offene Beziehung darauf hätte. Es handelt sich ganz und gar um ein Dienstgeheimnis. Meine Beglaubigungs-, Einführungs- und Empfehlungsbriefe beschränken sich auf die paar Worte: ›Ins Leben zurückgerufen‹, und man kann unter ihnen alles verstehen. Doch was ist das? Sie hört mich nicht! Miß Manette!«
Sie saß vollkommen still und unbewegt unter seiner Hand und war nicht einmal gegen die Stuhllehne zurückgesunken, trotz des Zustandes von Bewußtlosigkeit, in dem sie sich befand. Ihre Augen standen offen und waren auf ihn gerichtet: auch schien der vorerwähnte Ausdruck mit dem Meißel oder dem Brandeisen in ihre Stirn eingegraben zu sein. Sie hielt seinen Arm so fest umschlungen, daß er sich, um ihr nicht weh zu tun, scheute, ihre Hände loszumachen, und in dieser Not rief er, ohne sich von der Stelle zu rühren, laut um Hilfe.
Eine wild aussehende Weibsperson – Mr. Lorry bemerkte sogar in seiner Aufregung, daß sie selbst bis auf die Haare ganz rot aussah, in eine merkwürdig knapp anliegende Tracht gekleidet war und eine höchst wundersame Haube von der Gestalt eines mächtigen hölzernen Grenadierkübels oder eines großen Stiltoner Käses auf dem Kopf hatte – kam als Vortrab des Wirtshausgesindes in das Zimmer gerannt und erledigte alsbald die Frage seines Gebanntseins an die arme junge Dame damit, daß sie ihm mit sehniger Faust einen Stoß vor die Brust versetzte, demzufolge er gegen die nächste Wand flog.
»Das muß wahrhaftig ein Mannsbild sein«, dachte der atemlose Mr. Lorry in seinem Innern, als er den Widerstand der Mauer fühlte.
»Was soll eure Gafferei da!« rief die Weibsperson, gegen die Gasthausdienerschaft gewandt. »Warum geht ihr nicht, um das Nötige zu holen, und steht hier, um mich anzuglotzen? Ist denn so viel an mir zu sehen, he? Warum bringt ihr mir nichts? Gebt acht, ich mach' euch Beine, wenn nicht rasch Riechsalz, kalt Wasser und Weinessig herkommt. Nun, wird's bald?«
Es flog alles auseinander, um die gewünschten Belebungsmittel herbeizuschaffen, nur die Frau legte in der Zwischenzeit die Ohnmächtige sanft auf das Sofa. Sie zeigte dabei viel Geschick und Zartheit, nannte sie ihr »Schätzchen«, ihr »Vögelchen« und streifte mit Sorgfalt und Stolz das goldne Haar aus dem Antlitz der Patientin gegen die Schultern zurück.
»Und Ihr, Brauner, da«, sagte sie, entrüstet sich gegen Mr. Lorry umwendend, »konntet Ihr dem armen Kind nicht sagen, was Ihr ihm zu sagen hattet, ohne es auf den Tod zu erschrecken? Schaut sie an mit ihrem hübschen, blassen Gesicht und ihren kalten Händen. Treiben es alle Bankiers so?«
Mr. Lorry war von dieser schwer zu beantwortenden Frage so übermäßig betroffen, daß er nur aus der Ferne mit viel schwächerer Sympathie und Zerknirschung zuzuschauen vermochte, während das Mannweib, nachdem es die Hausdienerschaft unter der geheimnisvollen Drohung verbannt hatte, sie etwas nicht namhaft Gemachtes wissen zu lassen, wenn sie gaffend stehenbleibe, ihren Pflegling allmählich zur Besinnung brachte und durch Schmeichelworte bewog, das haltlose Köpfchen auf ihre Schulter zu legen.
»Ich hoffe, es macht sich jetzt bei ihr«, sagte Mr. Lorry.
»Dann ist jedenfalls Euer brauner Rock unschuldig daran. Mein Herzkäferchen.«
»Ich hoffe«, bemerkte Mr. Lorry nach einer abermaligen Pause schwacher Sympathie und Zerknirschtheit, »daß Ihr Miß Manette nach Frankreich begleiten werdet?«
»Sehr wahrscheinlich«, versetzte die entschiedene Frau. »Wenn es mir je beschieden gewesen wäre, daß ich über das Salzwasser soll, meint Ihr, die Vorsehung hätte mir dann meine Bestimmung auf meiner Insel angewiesen?«
Abermals eine schwer zu beantwortende Frage, weshalb Mr. Jarvis Lorry sich zurückzog, um darüber nachzudenken.
*
Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.
Ein großes Weinfaß war auf die Straße gefallen und geborsten. Der Unfall hatte sich zugetragen, als man es abladen wollte; man konnte es nicht mehr halten. Durch die Gewalt des Anpralls sprangen die Reifen, und da lag es nun unmittelbar