Kafir. Amed Sherwan
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DER ANFANG
»Kopfsteinpflaster«, schießt es mir durch den Kopf, als eben dieser mit voller Wucht auf die Straße knallt. Ich habe meine Freundin mal gefragt, warum das so heißt, sie hat die Antwort nachschlagen müssen.
Nun liegt mein Kopf auf dem harten Pflasterstein, während Schläge und Tritte auf mich einprasseln, und ich habe keine Ahnung, ob mich ein Islamist deswegen von hinten umgetreten hat, weil ich seinen Gott beleidigt habe, oder ein Rassist sich an meinem Flüchtlingsgesicht gestört hat.
Als eine Polizistin mich wenige Minuten später fragt, wie es zu diesem Vorfall gekommen ist, ist meine Sicht zwar noch leicht vernebelt, die Situation aber inzwischen klar. Und so fasse ich die relevanten Lebensereignisse routiniert zusammen.
Manchmal wirken meine Erinnerungen auf mich so fremd, als seien sie gar nicht meine. Ich habe Teile meiner Geschichte schon so oft erzählt, dass sie sich anfühlen wie Textdateien in meinem Kopf, die ich rausholen und vortragen kann, wenn mich jemand danach fragt.
Fragmente meiner Kindheitserlebnisse erzähle ich wie unterhaltsame Anekdoten, die ich irgendwo aufgeschnappt habe. Berichte aus einer anderen Welt. Und trotzdem gibt es keinen Tag, an dem ich nicht daran erinnert werde, wie alles damals vor 21 Jahren in Kurdistan angefangen hat.
AHMED
»Allahu akbar, Gott ist groß.« Meine Mutter wurde nicht müde zu betonen, dass es ein Wunder Gottes sei, dass ich das Licht der Welt überhaupt erblickt hatte.
Während die Geburten meiner Geschwister völlig unkompliziert verliefen, ging bei mir alles schief. Schon die Schwangerschaft war anstrengend und die Geburt schmerzhaft. Und als mein Körper dann endlich rauskam, war er leblos. Die Ärzte erklärten mich zum Entsetzen meiner Mutter für tot. Doch entgegen der ersten Prognosen war es nach langen, bangen Minuten gelungen, mich wieder zum Leben zu erwecken. Nach einigen Tagen konnte sie mich mit nach Hause nehmen, Ahmed, das dritte Kind der Familie.
»Alhamdulillah, gelobt sei Gott«, erklärte sie und schaute mich mit ihren ernsten braunen Augen besorgt an.
Möglicherweise hatte dieses Wunder des wiedergeborenen Sohnes ihre Religiosität erst wirklich entfacht. Denn wenn ich die Schachtel mit den Familienbildern rauskramte, entdeckte ich auf den Fotos eine Frau, die keine Ähnlichkeit hatte mit der strenggläubigen Muslimin, die ich als meine Mutter kannte.
Auf den Fotos sah ich eine lachende junge Frau ohne Kopftuch. Sie hatte meinen Vater ganz dreist aus Liebe und ohne Einwilligung ihrer Eltern geheiratet, hatte sie mir mal mit schelmischem Blick erzählt.
Rebellisch kam mir meine Mutter überhaupt nicht vor. Ich sah sie den ganzen Tag im Haushalt arbeiten, während die Fernsehprediger von Makkah Live vom Bildschirm auf sie einredeten. Sie ließ kein Gebet ausfallen, verhüllte ihre Haare in Anwesenheit aller anderen Männer außer meinem Vater und ging nie ohne den langen Mantel aus dem Haus. Und Irakisch-Kurdistan hatte sie bisher nur für die Haddsch verlassen.
Bei Entscheidungen ordnete sie sich meinem Vater fast immer unter. Nur wenn er uns Kindern gegenüber zu streng auftrat, blitzte Trotz in ihren Augen auf. Niemand sollte ihren Kindern etwas zuleide tun. Sie nahm mich immer in Schutz und ich dankte es ihr, indem ich ihr im Haushalt zur Hand ging.
»Du musst das nicht tun, Kúřim, mein Sohn, das kann deine Schwester machen«, sagte meine Mutter oft, wenn ich ihr das Gemüse klein schnitt oder beim Putzen half.
»Daya, ich mache das gern«, antwortete ich dann immer, und es stimmte.
Ich hatte keine Geduld, stundenlang für die Schule zu lernen wie mein älterer Bruder und verlor schnell den Spaß an den Spielen meiner großen Schwester und meines kleinen Bruders. Ich war am liebsten in Bewegung und fragte meine Eltern ständig nach Aufgaben.