Kafir. Amed Sherwan
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Vor dem Haus war die Kochecke unter einer Überdachung. Außen am Haus führte eine Treppe auf das Dach. Oben befanden sich ein großer Wassertank und eine kleine Dachterrasse, von der ich die Welt überblicken konnte, in der sich fast meine ganze frühe Kindheit abspielte.
Nur manchmal nahm mein Vater mich den langen Weg in die Werkstatt mit, in der er damals arbeitete. Ich liebte es, war meinem Vater aber oft mehr im Weg als zur Hilfe. Ich ließ mich zu leicht ablenken, um ihm sein Werkzeug zuverlässig zu reichen, hatte keinen Spaß daran, ihm nur beim Schrauben zuzugucken, und stellte mich zu ungeschickt an, um selber mit an den Autos zu hantieren.
»Willst du dir nicht Falafel holen gehen«, schickte mein Vater mich meistens nach kurzer Zeit weg. Dann spazierte ich stolz die wenigen Schritte zum Imbiss, schaute zu, wie der Händler den Teig zu kleinen Bällen formte und frittierte, nahm die fertige Brotrolle entgegen und stapfte damit zurück. Ich aß meine Mahlzeit in einer Ecke der Werkstatt und bemühte mich, ruhig zu warten, sprang aber meistens schnell wieder auf und hampelte rastlos um meinen Vater herum, bis er mich nach Hause bringen konnte.
Meiner Mutter machte es nichts aus, wenn ich versehentlich etwas umstieß, laut jauchzte oder mitten in einem Arbeitsschritt plötzlich vergaß, was ich machen wollte, weil ein Schmetterling vorbeiflog oder ein Vogel auf dem Strauch im Garten landete. Das Arbeiten im Haushalt wurde deshalb zu meinem liebsten Hobby. Ich goss Pflanzen im Garten, fegte den Innenhof und half beim Waschen und Trocknen der Wäsche auf dem Dach unseres Wohnhauses.
Eines Tages kam mein älterer Cousin vorbei, als ich gerade einen Teppich auf dem Dach bearbeitete, und bot mir seine Hilfe an. Wir kippten gemeinsam Seifenwasser über den Teppich, schrubbten die Fasern und spülten die Lauge mit einem Gartenschlauch ab. Mein Cousin war gewissenhaft am Schrubben, während ich den Schlauch führte. Ich nahm ihn hoch, um meinen Cousin nasszuspritzen, und rutschte dabei so heftig auf der Seifenlauge aus, dass ich kopfüber auf das Dach knallte. Was genau danach passierte, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch an meine aufgeplatzte Lippe und daran, dass ich ein paar Tage eine Bandage um den Kopf tragen musste und mein Cousin sich darüber lustig machte.
Ich tröstete mich im Garten mit meiner Schildkröte und strich ihr fasziniert über ihren harten Panzer. Dabei verlor ich sie kurz aus den Augen und fand sie nie wieder, doch die Beule über meiner rechten Augenbraue blieb.
DER STAUB
Der Künstler sieht noch immer traurig aus, als er die Balkontür aufmacht und sich wieder setzt.
»Ich mag Irakisch-Kurdistan sehr«, sagt er. »Aber ich hätte mir nie vorgestellt, dass Kurden so altmodisch sein können. Für uns in Syrien war die Autonomieregion immer das Gelobte Land. Aber als wir dahin flüchten mussten, war es wie eine Reise in die Vergangenheit. Das war fast wie im Mittelalter gegen das Leben in den Städten Syriens.«
»Ja, zumindest in Hewlêr«, stimme ich ihm zu.
»In Silêmanî ist es etwas moderner, studentischer, da gibt es viel Kunst und Kultur. Und es ist die Stadt der Eselpartei«, erinnert der Künstler.
Wir lachen beide laut auf. »Oh, die hatte ich fast vergessen«, sage ich.
»Die Partei hat sich für Esel eingesetzt, weil Esel die einzigen waren, die den kurdischen Freiheitskampf aktiv und uneigennützig unterstützt haben. Das Manifest der Partei war sehr lustig. Bei Parteitagen durfte man die Türen nur mit einem Eselstritt öffnen und das Parteilied lautete ›Ihhh-Ahhh‹.«
»Eigentlich erstaunlich, dass die sich so viel Satire erlauben konnten«, werfe ich ein.
»Naja, Spaß ist auch in Irakisch-Kurdistan erlaubt.«
»Jaja, solange man Familie, Glaube und Sexualmoral ausklammert«, sage ich zynisch. »Ein falscher Witz und du bist tot.«
»Was willst du damit auch erreichen? Als ich so jung war wie du, dachte ich auch, dass Provokationen wirken. Aber nun bin ich erwachsen und sehe es realistischer.«
»Na, wohl eher fatalistischer. Willst du die Ewiggestrigen einfach duldsam aushalten? In Kurdistan hat sich die erste Hochkultur der Menschheitsgeschichte entwickelt. Und seither geht es gefühlt stetig bergab. Vielleicht sollte man die Leute da sogar eher Neugestrige nennen? Gibt es so ein Wort?«
»Nein, das gibt es bisher nicht, glaube ich. Aber es passt gerade auch zu vielen Menschen in Deutschland«, sagt die Studentin.
»Im Moment ist Irakisch-Kurdistan ja zumindest ziemlich sicher, nur etwas altmodisch«, sagt der Künstler.
»Hewlêr ist ja auch eine der am längsten durchgehend bewohnten Städte der Welt, da haftet halt der Staub alter Zeiten an den Gemäuern.«
»Ja, staubig ist es da auf jeden Fall in mehrfacher Hinsicht.«
DER KRIEG
Der staubige, schmale Bürgersteig entlang der Straße vor unserem Haus war wie ein Treppenabsatz, auf dem wir Kinder oft saßen, mit Steinen oder Murmeln spielten oder einfach die Straße beobachteten.
Einmal konnten wir sehen, wie der Präsident mit seinem Gefolge durch unsere Stadt kam. Schwerbewaffnete Truppen begleiteten seinen Zug durch die Straßen und die Luft war von Helikopterlärm erfüllt. Wir standen auf, staunend und ehrfurchtsvoll vor dem mächtigsten Mann unserer Region.
Manchmal fuhren amerikanische Soldaten auf einem Pickup auf der großen Straße am Haus vorbei. Vorne zwei Menschen in der Fahrerkabine und hinten jemand mit Waffe an einem Stand. Manchmal gingen sie auch zu Fuß, und wenn sie an unserer Ecke in die Straße einbogen, sprangen mein kleiner Bruder und ich aufgeregt auf und rannten ihnen hinterher. Manchmal drehten sie sich dann zu uns um, lächelten und sagten etwas auf Amerikanisch. Mein Bruder und ich bewunderten diese großen Männer. Einige hatten ganz helle Haare, andere ganz dunkle Haut. Sie waren die Guten und hatten uns von Saddam und seinem Vetter Ali Chemie befreit. Sie erschienen mir wie Helden aus einem Märchen.
Auf dem Weg zurück imitierten wir die amerikanischen Worte, begrüßten uns mit »Hello«, kicherten und fragten uns, wie es wohl in Amerika war. Und dann hockten wir uns wieder an den Straßenrand, spielten mit Murmeln und warteten darauf, dass unser Vater von der Arbeit kam. Er lächelte immer breit, wenn er uns beide sitzen sah. Wir rannten dann auf ihn zu und hüpften an ihm hoch. Manchmal packte er einen von uns und wirbelte uns einmal durch die Luft.
Mein Vater war auch ein Held. Er hatte dichtes schwarzes Haar, dunkle Augenbrauen und einen Schnauzer, so wie jeder Mann mit Autorität. Ich war stolz auf meinen Vater. Er hatte sein Leben und seine Familie im Griff. Er war gottesfürchtig, schreckte aber sonst vor nichts zurück und war jederzeit bereit, zu den Waffen zu greifen, um die Ehre seiner Familie oder seines Volkes zu verteidigen.
Manchmal holte er seine alten Waffen aus dem Schrank und zeigte sie uns. Wir durften sie anfassen und er erzählte uns dann von der Zeit, als er gegen die Araber gekämpft hatte. Er war in den Bergen gewesen. Wie er wohl da gelebt hatte? Hatte er morgens zu Hause gegessen und danach in den Bergen gekämpft? Die Erwachsenen redeten oft von der Zeit, als die Kurden keine anderen Freunde hatten als die Berge. Und ich stellte mir gerne vor, dass die Berge riesige, freundliche Wesen waren, die meinen Vater versteckt und beschützt hatten im letzten großen Krieg.
Der Krieg war vorbei, aber allgegenwärtig. Auf den Mahntafeln für die Verstorbenen, in den Körpern der Männer