Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa
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Читать онлайн книгу Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa страница 15
»Aber nein, ich meine die Kälte, die vom Fluss her kommt. Ich finde sie nicht unangenehm. Machen Sie sich bitte keine Umstände!«
Wir stiegen die enge Treppe zum Atelier hinab. Er tastete sich ängstlich durch das Halbdunkel und hielt sich zaghaft an meinem rechten Arm fest.
»Oh … es ist größer, als ich dachte.«
Er schaute sich verwundert um.
»Nach dem Tod meiner Mutter hat mein Vater vor lauter Kummer diesen Raum nie wieder betreten. Deshalb sieht es hier auch so verwahrlost aus.«
Ich war das letzte Mal mit den Inuis hier unten gewesen.
»Sie können sich gerne umschauen.«
Er nahm alle Gegenstände in Augenschein, die im Atelier zurückgeblieben waren: das Regal mit den verschiedenen Werkzeugen, wo auch die fünf Skulpturen standen, die mir die Inuis anvertraut hatten; die Glastür, die zum Waschplatz führte; die Holzstühle. Obwohl es eigentlich nichts Besonderes zu sehen gab, inspizierte er jeden Winkel des Raums, als wollte er den Zauber alter Zeiten atmen.
»Sie können gerne die Schubladen aufziehen und sich die Skizzenbücher und Notizblätter anschauen.«
Als er sich die Papiere ansah, behandelte er sie ebenso achtsam wie mein Manuskript. Jede seiner Bewegungen wirbelte sachte den herumliegenden Staub auf. Durch das Oberlicht war ein Stück des klaren blauen Himmels zu erkennen. Hin und wieder hörte man das Platschen eines aus dem Wasser springenden Karpfens.
»Und was ist das?«
Zum Schluss hatte er die Kommode hinter der Treppe entdeckt.
»In diesen Schubladen hat meine Mutter früher geheime Dinge aufbewahrt.«
»Geheime Dinge?«
»Ja. Wie soll ich es beschreiben? Unbekannte Gegenstände, alle möglichen Sachen …«
Ich stockte, weil mir die passenden Worte fehlten.
Er zog die Schubladen auf. Sie waren alle leer.
»Es ist nichts mehr da.«
»Als ich Kind war, lag in jeder Schublade ein bestimmter Gegenstand. Meine Mutter zeigte mir manchmal ein paar davon, wenn sie eine Pause machte. Und dann erzählte sie etwas darüber. Es waren wundersame Geschichten, die in keinem meiner Kinderbücher vorkamen.«
»Aber warum sind sie jetzt leer?«
»Ich weiß es nicht. Mir ist erst später aufgefallen, dass keiner der Gegenstände mehr da ist. Ich glaube, sie verschwanden in dem Durcheinander, als meine Mutter weggebracht wurde.«
»Hat die Polizei die Sachen beschlagnahmt?«
»Nein. Die Männer waren niemals hier unten im Atelier. Eigentlich dürften nur meine Mutter und ich von den geheimen Dingen gewusst haben. Sogar mein Vater war nicht eingeweiht. Ich nehme an, meiner Mutter war es in den Tagen, bevor sie abgeholt wurde, gelungen, sie fortzuschaffen. Ich war damals erst zehn Jahre und hatte keine Ahnung von der Bedeutung der Gegenstände, sie selbst muss jedoch geahnt haben, dass es bei ihrer Vorladung genau darum ging. Aber ich denke nicht, dass sie irgendjemandem anvertraut hat, ob sie die Dinge zerstört oder irgendwo versteckt hat.«
»Aha …«
R stand unter der Treppe und duckte sich, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Er zog an einem der Griffe. Ich hatte Sorge, dass er sich an dem rostigen Metall die Finger schmutzig machen würde.
»Können Sie sich daran erinnern, was in dieser Schublade gewesen ist?«
Er schaute mich an.
Die Sonnenstrahlen, die durch das Oberlicht fielen, spiegelten sich in seinen Brillengläsern.
»Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, denn es waren die kostbarsten Momente, die ich zusammen mit meiner Mutter verbracht habe. Aber es hat keinen Zweck, mein Gedächtnis ist zu lückenhaft. Ich sehe zwar ihr Gesicht vor mir, ich höre den Tonfall ihrer Stimme und spüre die Atmosphäre, die damals hier im Atelier herrschte, aber an die Dinge in den Schubladen habe ich bloß noch verschwommene Erinnerungen. Es ist, als hätten sich in meinem Gedächtnis ihre Konturen aufgelöst.«
»Jede noch so vage Erinnerung ist wichtig. Erzählen Sie von jedem Detail, das Ihnen einfällt, egal, wie banal es Ihnen erscheinen mag.«
»Hm …«
Ich betrachtete die Kommode. Früher war es zweifellos ein edles Möbelstück gewesen, aber nun war sie in einem erbärmlichen Zustand: völlig eingestaubt, die Griffe verrostet, der Lack blätterte ab. Hier und da waren Spuren von Aufklebern zu erkennen, die ich als Kind zum Spaß dort angebracht hatte.
»Ihr liebster Gegenstand …«, begann ich, nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, »befand sich in der zweiten Reihe. Es war ein Andenken an ihre Mutter. Ein kleiner grüner Stein. Er war so klein wie ein Milchzahn und ganz hart. Der Vergleich fällt mir deshalb ein, weil mir damals gerade die Milchzähne ausfielen.«
»Sah er schön aus?«, fragte R.
»Ich glaube schon. Meine Mutter hielt ihn oft ins Mondlicht und bewunderte seinen Schimmer. An mehr kann ich mich leider nicht erinnern. Ob er wertvoll war, ob ich ihn haben wollte. Nur die Kälte des Steins, als sie ihn mir auf die Handfläche legte, habe ich im Gedächtnis bewahrt. Wenn ich hier vor der Kommode stehe, fühlt sich mein Herz wie eine Seidenraupe, die in ihrem Kokon schlummert.«
»Dagegen kann man nichts ausrichten. Das geht jedem so, wenn er etwas verloren hat.«
Er schob seine Brille zurecht.
»Könnte es ein Smaragd gewesen sein?«
Zunächst löste das Wort in mir nichts aus.
»Sma-ragd?«
Ich sprach die Silben mehrmals leise vor mich hin.
Tief in meinem Innern meldete sich ein leises Echo.
»Ja, stimmt. So hieß der Stein.«
Ich nickte.
»Aber woher wissen Sie das?«
Er schwieg. Anstatt mir zu antworten, öffnete er eine Schublade nach der anderen. Die Griffe klapperten. Nachdem er die linke Schublade in der vierten Reihe aufgezogen hatte, hielt er inne und drehte sich zu mir um.
»Hier wurde ein Parfum aufbewahrt, nicht wahr?«
»Woher …«, wollte ich wieder fragen, verschluckte aber meine Worte.
»Der Duft ist geblieben.«
Er schob mich sanft in Richtung Schublade.
»Riechen Sie es?«
Ich blickte in die Öffnung der leeren Schublade und sog den Duft ein. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter es mir vorgemacht hatte, damit ich ihn voll und ganz in mir aufnehmen konnte. Doch das, was jetzt meine Brust erfüllte, war nur kalte, abgestandene Luft. Das