Insel der verlorenen Erinnerung. Yoko Ogawa

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Insel der verlorenen Erinnerung - Yoko Ogawa

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ausgetretene, aber sehr robuste Schuhe. Sie waren so alt, dass man meinte, sie seien ein Teil von ihm.

      »Manchmal bekomme ich es schon mit der Angst zu tun«, sagte ich, ohne aufzuschauen. »Es werden immer mehr Dinge verschwinden. Was soll nur aus der Insel werden?«

      Der alte Mann griff sich an sein stoppeliges Kinn. Es schien, als würde er den Sinn meiner Frage nicht verstehen.

      »Wie meinen Sie das …?«

      »Es verschwindet mehr, als dass Neues entsteht. Ist es nicht so?«

      Der alte Mann zog die Stirn in Falten, als hätte er Kopfschmerzen.

      »Was können die Inselbewohner schon Großartiges hervorbringen?«, fuhr ich fort. »Einige Gemüsesorten, Autos, die ständig kaputtgehen, einfältige Theaterstücke, sperrige Öfen, ein paar ausgemergelte Nutztiere, ölige Schminke, Babys, Romane, die kein Mensch liest … Nur unscheinbares Zeug, auf das kein Verlass ist. Jedenfalls nichts, was es mit den verschwundenen Dingen aufnehmen könnte. Dabei darf man den damit verbundenen Energieverlust nicht vergessen. Es geschieht nicht gewaltsam, aber tief greifend und unaufhaltsam. Wir müssen aufpassen. Ich fürchte, wenn wir die entstandenen Löcher nicht füllen können, wird die Insel bald ausgehöhlt sein, porös, bis sie sich eines Tages ganz in Luft auflöst. Haben Sie nie darüber nachgedacht?«

      »Nun ja, was soll ich sagen …« Der alte Mann fühlte sich augenscheinlich sehr unwohl, denn er schob die Ärmel seines Pullovers nervös hoch und herunter. »Es liegt vielleicht daran, dass Sie Romane schreiben, wenn Sie sich – wie soll ich sagen? – solch wundersame Dinge ausmalen. Man erfindet doch allerhand Geschichten, wenn man Romane schreibt, oder?«

      »Nun ja …«, stotterte ich. »Aber das hier hat nichts mit einem Roman zu tun. Das sind Ängste, die sehr real sind.«

      »Sie sollten sich nicht solche Sorgen machen!«, entgegnete er resolut. »Ich lebe schon dreimal so lange wie Sie auf dieser Insel. Also habe ich mindestens dreimal so viele Dinge verloren. Aber das hat mir niemals Angst eingejagt, und vermisst habe ich die Dinge auch nicht. Nicht mal, als ich die Fähre verloren habe. Man konnte dann zwar nicht mehr übers Meer fahren und drüben zum Einkaufen oder ins Kino gehen. Und ich hatte nicht mehr das Vergnügen, mit ölverschmierten Fingern an den Maschinen zu arbeiten. Und Geld bekam ich auch nicht mehr. Aber das fand ich nicht schlimm. Ich habe auch ohne die Fähre mein Leben gemeistert. Nachdem ich eingearbeitet war und die Lagerhallen bewacht habe, hat mir das ebenfalls Freude gemacht. Und nun darf ich sogar an meinem ehemaligen Arbeitsplatz meinen Lebensabend verbringen. Es fehlt mir also an nichts.«

      »Aber Sie haben doch bestimmt keine Erinnerung mehr an die Fähre. Heute ist sie doch nicht mehr als ein riesiger Haufen altes Eisen, der auf dem Meer dahindümpelt. Ist das nicht schmerzhaft?«

      Seine Lippen zuckten, während er nach Worten suchte.

      »Es mag stimmen, dass heutzutage vieles auf der Insel fehlt. Als ich ein Kind war, schien sie mir – wie soll ich sagen? – irgendwie gehaltvoller, solider zu sein. Aber seitdem die Luft grobmaschiger ist, sind auch unsere Seelen transparenter. Dadurch hat sich ein Gleichgewicht ergeben. Es ist wie beim Gesetz des osmotischen Drucks. Selbst wenn das Gleichgewicht gestört wird, erreicht man nie den Nullpunkt. Deshalb haben wir auch nichts zu befürchten.«

      Der alte Mann nickte zur Bekräftigung. Es erinnerte mich an meine Kindheit, als sich sein Gesicht in Falten legte, wenn ich ihn mit meinen Fragen löcherte. Weshalb bekommen Leute gelbe Finger, wenn sie Mandarinen essen? Wohin werden Magen und Darm geschoben, wenn im Bauch einer Frau ein Baby heranwächst?

      »Wahrscheinlich haben Sie recht. Es wird irgendwie gehen.«

      »Da bin ich mir sicher. Es ist nicht tragisch, wenn etwas in Vergessenheit gerät oder spurlos verschwindet. Nur diejenigen, die nicht loslassen können, müssen damit rechnen, in die Fänge der Erinnerungspolizei zu geraten.«

      Die Abenddämmerung senkte sich über das Meer. Egal, wie sehr ich die Augen auch zusammenkniff, ich konnte kein einziges Rosenblatt mehr entdecken.

      8

      Es ist fast drei Monate her, dass ich meine Stimme verloren habe. Seitdem passiert zwischen uns nichts mehr ohne die Schreibmaschine. Selbst wenn wir uns lieben, steht sie still neben dem Bett parat. Sobald ich ihm etwas mitteilen möchte, kann ich es dann schnell auf der Maschine tippen. Ich schreibe mittlerweile sogar schneller mit der Maschine als mit der Hand.

      Zu Beginn meiner Aphasie versuchte ich noch alles Erdenkliche, um zu sprechen. Ich rollte die Zunge in meinen Rachen und hielt die Luft an, bis ich fast platzte, oder ich verzog meinen Mund krampfhaft in alle Richtungen. Aber als ich begriff, dass all diese Versuche zwecklos waren, verließ ich mich auf die Schreibmaschine. Immerhin ist mein Geliebter ja Lehrer in einer Schreibmaschinenschule, und ich arbeite als Stenotypistin.

      »Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?«

      Als er mich das eines Tages fragte, senkte ich wie immer den Blick auf die Schreibmaschine, die auf meinem Schoß stand.

      Klack … klack … klack …

      ICH WÜNSCHE MIR FARBBÄNDER.

      Er hielt den Kopf schräg, legte seinen rechten Arm um meine Schulter und las die frisch getippten Buchstaben.

      »Ein Farbband? Das ist nicht gerade romantisch.«

      Er musste lächeln.

      Klack …klack …klack ….

      ICH FÜRCHTE, DASS DIE FARBBÄNDER IRGENDWANN VERSCHWINDEN. DANN KANN ICH NICHT MEHR MIT IHNEN SPRECHEN.

      Wenn wir zusammen sind, bin ich sehr glücklich, seine Körperwärme an meiner Schulter zu spüren. Dabei vergesse ich sogar den Verlust meiner Stimme.

      »Gut. Dann gehe ich in den Schreibwarenladen und kaufe sämtliche Farbbänder auf, die sie auf Lager haben.«

      Klack … klack…

      DANKE.

      Meine Worte hatten in der Form von Buchstaben einen ganz anderen Charakter als beim Sprechen. Die zarten Abdrücke der Typen auf dem Papier. Die manchmal unsaubere Schrift. Das leicht geneigte J, das hintenüberzufallen drohte. Das unvollständige M, dessen mittlerer Zacken fehlte. M und J mussten bald ausgetauscht werden.

      Ich weiß noch genau, wie er mirim Unterricht beigebracht hat, ein Farbband zu wechseln. Es war noch ganz am Anfang, als ich lediglich es, es, es und dies, dies, dies auf ein Blatt Papier tippte.

      »Bis zum Ende der heutigen Unterrichtsstunde werden Sie gelernt haben, wie man ein neues Farbband einlegt«, hatte er damals gesagt.

      »Es ist zunächst ein wenig verzwickt, aber wenn man es einmal verstanden hat, ist es kinderleicht. Also schauen Sie gut hin!«

      Er versammelte die Schülerinnen um einen Tisch herum. Zuerst öffnete er mit einem leisen Klick die Abdeckung der Maschine. Ihr Innenleben sah viel interessanter aus, als ich mir vorgestellt hatte. Die Typenhebel, die Spulen, die verschiedenförmigen Stifte, die vom Öl geschwärzte Metallstange – das alles bildete ein hochkomplexes System.

      »So entfernen wir nun das verbrauchte Farbband.«

      Er löste das alte Farbband von der rechten

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