Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens

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dran, sagte Mr. Plornish, ungemein schlimm dran, das könne er versichern.

      Er könne nicht sagen, wie das komme; er wisse nicht, ob es irgend jemand sagen könne; alles, was er wisse, sei, daß dies wirklich so wäre. Wenn ein Mensch an seinem eigenen Rücken oder in seinem Bauch fühle, daß er arm sei, so wisse dieser Mensch (das war Mr. Plornishs feste Überzeugung), daß er auf irgendeine Art arm sei, und man könne es ihm auch nicht ausreden, wie man kein Ochsenfleisch in ihn hineinreden könne.

      Und dann, sehen Sie, einzelne Leute, denen es besser geht, und derer wohnen eine ziemliche Masse bis dicht an dies Quartier und drüber hinaus, wie er gehört, – diese hätten gesagt, sie seien »sorglose Menschen« (das war sein Lieblingswort). Wenn sie zum Beispiel einen Mann mit seiner Frau und seinen Kindern in einem Wagen nach Hampton Court fahren sehen, und wär's auch nur einmal im Jahre, so sagen sie: »Hallo! Ich habe geglaubt, Ihr seid arm, mein sorgloser Freund!« Nun, bei Gott, das sei doch gewiß hart gegen den Mann! Was solle der Mensch anfangen? Er könne nicht »melancholisch« den Kopf hängen lassen, und wenn er's täte, wär' es darum nicht besser. Nach Mr. Plornishs Ansicht wäre es nur um so schlimmer. Aber man scheine den Menschen wirklich melancholisch, wahnsinnig machen zu wollen. Darauf arbeitete man ständig hin – wenn nicht mit der rechten Hand, dann mit der linken. Und was tun die Leute im Hof zum blutenden Herzen? Sehe man sich's mal näher an. Die Mädchen und ihre Mütter seien mit Nähen oder Schuheinfassen, Säumen und Kleidermachen Tag und Nacht und Nacht und Tag beschäftigt und nicht imstande, mehr als Leib und Seele zusammenzuhalten und oft nicht mal so viel. Es gebe dort Leute von allen Arten von Gewerben, die man kaum nennen könne, die alle arbeitsbedürftig seien, aber keine Arbeit bekommen könnten. Es wohnen alte Leute dort, die, nachdem sie ihr ganzes Leben hindurch gearbeitet, ins Armenhaus eingeschlossen, dort schlechtere Kost, Wohnung und Behandlung hätten, als – Mr. Plornish sagte Fabrikarbeiter, schien aber Strafarbeiter zu meinen. Man wisse nicht, wohin man sich wenden solle, um sich ein bißchen Labsal zu verschaffen.

      Wer darob zu tadeln sei, – Plornish wußte es nicht. Er könnte auch sagen, wer darunter litt, aber nicht, wessen Schuld es wäre. Es sei nicht seine Sache, das herauszubringen, und wer würde darauf achten, wenn es ihm gelänge? Er wüßte bloß, daß diejenigen, die das täten, es nicht recht machten und daß es von selbst auch nicht recht würde. Kurz, es war seine unlogische Ansicht, daß, wenn man nichts für ihn tun könne, man lieber von ihm auch nichts dafür nehmen würde, daß man sich damit zu tun machte; soweit er sich die Sache erklären könne, käme es darauf hinaus. So drehte Plornish in seiner weitläufigen, halb murrenden, törichten Manier den verwickelten Strang seiner Lage um und um wie ein blinder Mann, der einen Anfang oder ein Ende desselben zu finden sucht, – bis sie endlich das Tor des Gefängnisses erreichten. Dort verließ er seinen Auftraggeber, der, während sein Gehilfe von ihm wegeilte, überlegte, wie viele tausend Plornishs wohl, ein bis zwei Tagreisen in der Runde um das Circumlocution Office herum, allerlei seltsame Variationen derselben Melodie spielten, die man in dem glorreichen Institut nicht einmal vom Hörensagen kannte.

      Die Erwähnung von Mr. Casby machte in Clennams Gedächtnis die rauchenden Kohlen der Neugierde und des Interesses wieder glühen, die Mrs. Flintwinch am Abend seiner Ankunft angefacht. Flora Casby war die Geliebte seiner Knabenzeit gewesen, und Flora war die Tochter und das einzige Kind des holzklotzköpfigen alten Christopher (so nannten ihn bisweilen einige unehrerbietige Geister, die Geschäfte mit ihm hatten, und bei denen die Vertraulichkeit vielleicht ihre sprichwörtlichen Resultate hatte); er genoß den Ruf eines Mannes von großen wöchentlichen Mieteinnahmen; und ferner, daß er eine gute Quantität Blut aus den Steinen verschiedener wenig versprechender Höfe und Gäßchen zu pressen wisse.

      Nach mehrtägigem Forschen und Fragen gewann Arthur Clennam endlich die Überzeugung, daß die Sache des Vaters vom Marschallgefängnis wirklich eine hoffnungslose sei, und verzichtete mit großem Schmerz auf den Gedanken, ihm zu seiner Freiheit zu verhelfen. Er hatte im Augenblick auch wegen Klein-Dorrits keine Nachforschungen mit Aussicht auf Erfolg anzustellen; aber er dachte bei sich, wenn irgend etwas, werde es für das arme Kind dienlich sein, wenn er diese Bekanntschaft erneuere. Es ist kaum nötig, hinzuzufügen, daß er ohne allen Zweifel sich bei Mr. Casby eingefunden, auch wenn keine Klein-Dorrit vorhanden gewesen; denn wir wissen alle, wie wir uns täuschen – das heißt, wie die Leute im allgemeinen, unser tieferes Selbst ausgenommen, sich über die Beweggründe ihrer Handlungen täuschen.

      Mit einem angenehmen und in seiner Art ehrlichen Gefühl, daß er Klein-Dorrit auch selbst dann in seinen Schutz nehme, wenn er tue, was gar keine Beziehung zu ihr habe, stand er eines Nachmittags an der Ecke der Straße von Mr. Casby. Mr. Casby wohnte in einer Straße in Gray's Inn Road, die mit der Absicht von dieser Durchfahrt sich abzweigt, in einem Lauf nach dem Tal hinab und wieder nach der Höhe von Pentonville Hill hinaufzurennen, die sich aber nach einer Strecke von zwanzig Ellen außer Atem gelaufen und seit jener Zeit stillgestanden. Es existiert jetzt kein solcher Platz in jenem Stadtteil mehr. Aber die stehengebliebene Straße war viele Jahre dort zu sehen, wie sie mit getäuschtem Gesicht nach der mit unfruchtbaren Gärten bepflasterten und mit finnenartig hervorbrechenden Sommerhäusern durchzogenen Wildnis hinabschaute, die sie im Nu zu überrennen gewillt gewesen.

      »Das Haus«, dachte Clennam, als er über die Straße nach der Tür ging, »hat sich so wenig verändert wie das meiner Mutter und sieht beinahe ebenso düster aus. Aber die Ähnlichkeit hört schon außerhalb auf. Ich kenne seine stille Ruhe darinnen. Der Geruch seiner Vasen mit Rosenblättern und Lavendel scheint mir bereits entgegenzuduften.«

      Als auf sein Klopfen mit dem glänzenden messingenen Türhammer von altväterischer Form eine Dienerin in der Tür erschien, begrüßten ihn wirklich diese welken Gerüche wie ein Winterhauch, der uns flüchtig an den vergangenen Frühling erinnert. Er trat in das nüchterne, stille, luftdichte Haus – man hätte glauben können, es sei von stummen Henkern nach orientalischer Methode erstickt worden –, und als die Tür wieder geschlossen wurde, schien sie Klang und Bewegung hinauszubannen. Das Hausgerät war feierlich, ernst und quäkerartig, aber gut gehalten, und machte einen so befangenen Eindruck, wie irgend etwas von einem menschlichen Geschöpf bis zu einem hölzernen Stuhl herab, das für vielen Gebrauch bestimmt, aber zu wenigem aufbewahrt ist, nur immer haben kann. Eine schwere Uhr tickte irgendwo auf der Treppe, und in derselben Gegend befand sich ein gesangloser Vogel, der an seinem Käfig pickte, als ob er gleichfalls tickte. Das Feuer im Parterrezimmer tickte auf dem Rost. Nur eine Person befand sich an dem Kamine des Parterrezimmers, und die laute Uhr in ihrer Tasche tickte hörbar.

      Die Dienerin hatte die beiden Worte »Mr. Clennam« so leise getickt, daß sie nicht gehört worden war. Er stand deshalb unbemerkt in der Tür, die sie geschlossen. Die Gestalt eines Mannes von vorgerücktem Alter, dessen glatte, weiße Augbrauen sich nach dem Ticken zu bewegen schienen, während der Feuerschein auf ihnen flackerte, saß in einem Armstuhl, die Lackschuhe auf dem Kaminteppich streckend und die Daumen langsam umeinander drehend. Es war der alte Christopher Casby – auf den ersten Blick zu erkennen –, seit zwanzig Jahren und noch länger so unverändert wie sein solides Hausgerät, – von dem Einfluß der verschiedenen Jahreszeiten so wenig berührt wie die alten Rosenblätter und der alte Lavendel in seinen Porzellantöpfen. Vielleicht gab es in dieser schwierigen Welt nichts für die Phantasie so Schwieriges, wie sich ihn als Knaben vorzustellen; und doch hatte er sich seit jener Zeit auf seinem Weg durchs Leben sehr wenig verändert. Ihm gegenüber, in dem Zimmer, in dem er saß, befand sich das Bild eines Knaben, das jeder beim ersten Blick als das von Mr. Christopher Casby in seinem zehnten Jahre bezeichnet haben würde. Obgleich er als kleiner Heumäher verkleidet und mit einem Rechen versehen war, für den er von je so viel Geschmack oder Gebrauch gehabt wie für eine Taucherglocke, und dabei (auf einem seiner Beine) auf einer Veilchenbank saß, durch eine Dorfkirchturmspitze in frühreife Betrachtungen versenkt. Es war dasselbe glatte Gesicht, dieselbe glatte Stirn, dasselbe ruhige, blaue Auge, dieselbe gelassene Miene. Der glänzende Glatzkopf, der so groß erschien, weil er so viel Glanz verbreitete, und das lange weiße Haar an den Seiten und hinten, wie Pflanzenseide oder gesponnenes

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