Philosophisches Taschenwörterbuch. Voltaire

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Philosophisches Taschenwörterbuch - Voltaire

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      Titelseite der Erstausgabe des Dictionnaire philosophique portatif aus der Bibliothek des Grafen Johannn Eustach von Goertz (1737–1821). Zur Geschichte der Bibliothek siehe Norbert Leithold, Graf Goertz. Der große Unbekannte: Eine Entdeckungsreise in die Goethe-Zeit, Osburg, 2010.

      ABRAHAM

      Abraham ist einer jener in Kleinasien und Arabien berühmten Namen, wie Thot bei den Ägyptern, der ehrwürdige Zarathustra bei den Persern, Herkules in Griechenland, Orpheus in Thrazien, Odin bei den Völkern des Nordens und so viele andere, die man mehr dem berühmten Namen nach kennt als durch eine gesicherte Geschichtsschreibung. Ich spreche hier nur von weltlicher Geschichtsschreibung, denn was jene der Juden, unsere Meister und unsere Feinde, betrifft, denen wir glauben und die wir verachten,* so haben wir ihr gegenüber die Empfindungen, die wir haben müssen, da die Geschichte dieses Volkes ganz offensichtlich vom Heiligen Geist selbst geschrieben wurde. Wir gehen an dieser Stelle nur auf die Araber ein; sie rühmen sich, durch Ismael von Abraham abzustammen, sie glauben, dass dieser Patriarch Mekka erbaute und in dieser Stadt verstarb. Tatsache ist, dass das Geschlecht Ismaels unendlich stärker von Gott bevorzugt wurde als das Geschlecht Jakobs. Um die Wahrheit zu sagen, hat der eine wie der andere Stamm Diebe hervorgebracht, aber die arabischen Diebe sind den jüdischen haushoch überlegen gewesen. Die Nachfahren Jakobs eroberten nur ein sehr kleines Land und haben es verloren; die Nachfahren Ismaels haben einen Teil Asiens, Europas und Afrikas erobert, ein Imperium aufgebaut, das größer war als das der Römer, und die Juden aus ihren Höhlen verjagt, die diese das gelobte Land nannten.

      Beurteilt man diese Dinge allein nach den Beispielen, die unsere modernen Geschichtsschreiber geben, so erscheint es schwer vorstellbar, dass Abraham der Vater zweier so unterschiedlicher Völker gewesen sein soll. Man sagt uns, er sei in Chaldäa geboren worden und Sohn eines armen Töpfers gewesen, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, kleine Götterfiguren aus Ton herzustellen. Es ist kaum wahrscheinlich, dass der Sohn dieses Töpfers aufgebrochen ist und unwegsame Wüsten durchquert hat, um dreihundert Meilen davon entfernt unter dem Wendekreis Mekka zu gründen. War er ein Eroberer, wandte er sich zweifellos dem schönen Land der Assyrer zu; war er nur der arme Mann, als den man ihn uns beschreibt, hat er außerhalb seiner Heimat keine Königreiche gegründet.

      Die Genesis* berichtet, er sei 75 Jahre alt gewesen, als er nach dem Tod seines Vaters Terach, dem Töpfer, das Land Haran verließ. Aber dieselbe Genesis sagt auch, dass Terach Abraham mit 70 Jahren zeugte, selber bis zum Alter von 205 Jahren lebte, und dass Abraham Haran erst nach dem Tode seines Vaters verließ.* Nach dieser Berechnung erhellt aus der Genesis selbst, dass Abraham 135 Jahre alt war, als er Mesopotamien verließ. Er ging von einem götzendienerischen Land in ein anderes götzendienerisches Land namens Sichem in Palästina. Warum ging er dorthin? Warum verließ er die fruchtbaren Ufer des Euphrat für eine so weit entfernte, so unfruchtbare, so steinige Gegend wie die von Sichem? Das Chaldäische muss sich von der Sprache Sichems stark unterschieden haben, es war kein Handelsplatz; Sichem ist von Chaldäa mehr als hundert Meilen entfernt, und man muss Wüsten durchqueren, um dorthin zu gelangen; aber Gott wollte, dass er diese Reise unternahm, er wollte ihm das Land zeigen, das seine Nachkommen einige Jahrhunderte nach ihm bewohnen würden. Nur schwerlich begreift der menschliche Geist den Sinn einer derartigen Reise.

      Kaum ist er in dem kleinen bergigen Sichem angekommen, zwingt ihn eine Hungersnot, es zu verlassen. Er geht mit seiner Frau nach Ägypten, um dort eine Lebensgrundlage zu finden. Von Sichem nach Memphis sind es zweihundert Meilen. Ist es normal, dass man so weit entfernt um Korn bittet, in einem Land, dessen Sprache man überhaupt nicht versteht? Dies sind seltsame Reisen, unternommen im Alter von fast 140 Jahren.

      Nach Memphis nahm er seine Frau Sara mit, die im Vergleich zu ihm äußerst jung und fast noch ein Kind war, zählte sie doch nur 65 Jahre. Da sie sehr schön war, beschloss er, sich ihre Schönheit zunutze zu machen: »Tue so, als wärst du meine Schwester«, sprach er zu ihr, »damit man mir deinetwegen Gutes tut.« Er hätte ihr vielmehr sagen sollen: »Tue so, als wärst du meine Tochter.« Der König verliebte sich in die junge Sara und gab dem angeblichen Bruder viele Schafe, Rinder und Esel, Eselinnen, Kamele, Diener, Dienerinnen: was beweist, dass Ägypten damals ein sehr mächtiges und zivilisiertes Land war, also schon sehr lange bestand, und dass man Brüder großartig belohnte, wenn sie ihre Schwestern den Königen von Memphis anboten.

      Die junge Sara war der Heiligen Schrift zufolge 90 Jahre alt, als Gott ihr versprach, dass Abraham, mittlerweile 160 Jahre alt, ihr binnen Jahresfrist ein Kind machen werde.

      Abraham, der gern umherzog, begab sich in die schreckliche Wüste Kadesch, zusammen mit seiner schwangeren, immer noch jungen, immer noch schönen Frau. Es blieb nicht aus, dass sich ein Wüstenkönig dort, ebenso wie der König Ägyptens, in Sara verliebte. Der Vater aller Gläubigen griff zu derselben Lüge wie in Ägypten: Er gab seine Frau als seine Schwester aus, und dieses Geschäft erbrachte ihm wiederum Schafe, Rinder, Diener und Dienerinnen. Man kann sagen, dass dieser Abraham dank seiner Frau sehr reich wurde. Die Kommentatoren haben eine erstaunliche Anzahl von Bänden verfasst, um das Verhalten Abrahams zu rechtfertigen und die zeitliche Abfolge ins Reine zu bringen. Wir müssen also den Leser auf diese Kommentare verweisen. Sie sind alle von scharfsinnigen und feinfühligen Geistern verfasst worden, von ausgezeichneten Metaphysikern, vorurteilsfreien Leuten und keinesfalls Pedanten.

      ÂME – Seele

      Könnte man in seine Seele blicken, so wäre dies eine gute Sache. Erkenne dich selbst ist eine vortreffliche Verhaltensregel, doch Gott allein vermag sie anzuwenden, denn wer außer ihm ist in der Lage, sein eigenes Wesen zu erkennen?

      Als Seele bezeichnen wir, was beseelt. Weil unser Verstand beschränkt ist, wissen wir davon kaum mehr. Drei Viertel der Menschheit kommen darüber nicht hinaus und scheren sich nicht um das denkende Wesen, das letzte Viertel sucht, doch hat niemand jemals etwas gefunden, noch wird jemals irgendjemand etwas finden.

      Armer Philosoph, du siehst eine Pflanze wachsen und sagst Wachstum oder sogar vegetative Seele.* Du bemerkst, dass Körper sich bewegen und Bewegung erzeugen, und sagst: Kraft; du siehst, wie dein Jagdhund durch dich zu jagen lernt, und da entfährt dir Instinkt, fühlende Seele; du verbindest Vorstellungen miteinander und du sagst Geist.

      Aber mit Verlaub, was verstehst du unter den Worten: »Diese Blume wächst«? Aber gibt es ein reales Wesen, das Wachstum heißt? Jener Körper stößt einen anderen an, aber hat er ein von ihm unterschiedenes Wesen in sich, das sich Kraft nennt? Jener Hund bringt dir ein Rebhuhn, aber gibt es ein Wesen namens Instinkt? Würdest du nicht auch über einen Klugschwätzer lachen (und sei er auch der Lehrmeister Alexanders des Großen gewesen), der zu dir sagte: »Alle Tiere leben, also gibt es in ihnen ein Sein, eine substantielle Form, die das Leben ist?«

      Wenn nun eine Tulpe sprechen könnte und zu dir sagte: »Mein Wachstum und ich, wir sind offensichtlich zwei miteinander verbundene Wesen« – würdest du die Tulpe da nicht auslachen?

      Sehen wir uns zunächst einmal an, was du weißt und worüber du dir sicher bist: nämlich, dass du mit deinen Füßen gehst, mit deinem Magen verdaust, mit deinem ganzen Körper fühlst und mit deinem Kopf denkst. Dann wollen wir sehen, ob allein dein Verstand dir genügend Einsicht verschafft hat und dich – ohne Rückgriff auf Übernatürliches – zu dem Schluss gelangen lässt, dass du eine Seele besitzt.

      Die ersten Philosophen, ob es sich nun um Chaldäer oder um Ägypter handelte, sagten: »Es muss in uns etwas geben, das unsere Gedanken hervorbringt, dieses Etwas muss sehr fein sein, es ist ein Hauch, es ist Feuer, es ist Äther, es ist die Essenz von allem, es ist ein flüchtiges Trugbild, es ist eine Entelechie*, es ist eine Zahl, es ist eine Harmonie.« Schließlich,

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