Die Fieberkurve. Friedrich Glauser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Fieberkurve - Friedrich Glauser страница 7
»Zwei Spione?« fragte Studer. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke beim offenen Fenster, hatte die Ellbogen auf die Schenkel gestützt und die Hände gefaltet. Er starrte zu Boden. »Zwei Spione?« wiederholte er.
Marie schloß das Fenster. Sie blickte auf den Hof, ihre Finger trommelten einen eintönigen Marsch gegen die Scheiben und ihr Atem ließ auf dem Glase einen trüben Fleck entstehen: Tröpflein bildeten sich, kollerten herab, bis der Fensterrahmen sie aufhielt.
»Ja, zwei Spione.« Maries Stimme war eintönig. »Die Gebrüder Mannesmann… Mit dem Brief aber war es so: Wir wohnten damals an der Rheinschanze und hatten eine große Wohnung. Dann kam eines Tages der Brief. Ich hatte Ferien… Der Briefträger brachte die große Enveloppe, sie war rekommandiert, und die Mutter mußte unterschreiben. Es fielen zwei Tränen in das Büchlein des Briefträgers und die Schrift des Tintenbleistifts lief auseinander. Der Vater hinterließ nicht viel, und nach seinem Tode ging es uns schlecht. Die Mutter wunderte sich später oft, daß so wenig Geld zurückgeblieben war. Die Tante in Bern, die besaß ein Vermögen… «
Studer blätterte in seinem Notizbuch. Die erste Frau!… Hatte der Mönch, der Weiße Vater, nicht von ihr gesprochen? Da: »Sophie Hornuss, Gerechtigkeitsgasse 44, Bern.«
»Wie ist der Vater mit den zwei Spionen – mit den… wie hast du sie genannt?… ah ja!… mit den Gebrüdern Mannesmann ausgekommen?«
»Gut. Ganz gut zuerst. Ich weiß das alles nur von der Mutter. Sie hatten Schürfungen gemacht, wie ich Ihnen erzählte. Besonders im Süden von Marokko. Das heißt, der Vater hatte das Vorkommen der Erze entdeckt. Die Brüder Mannesmann gaben sich als Schweizer aus; und dann, während dem Krieg, haben sie einigen Deutschen aus der Fremdenlegion zur Rückkehr in die Heimat verholfen. Das hat der Vater erfahren und dem General mitgeteilt. Und dann wurden die beiden ganz einfach an die Wand gestellt. Zum Dank für den Ver… für die Benachrichtigung ist der Vater bald nachher von der französischen Regierung angestellt worden… «
– So syg das gsy, nickte Studer. Er stand auf, beugte sich wieder über den Schreibtisch. Die ausgelegten Karten hatten es ihm angetan.
– Und was habe es für eine Bewandtnis mit den Karten?
Marie Cleman stützte die Hände auf das Fensterbrett und saß leicht auf dem vorspringenden Absatz, während ihre Fußspitzen den Rand des abgeschabten Teppichs berührten. Dünne Fesseln hatte das Mädchen!…
Die Karten! Das sei eben das Elend gewesen! Darum sei sie von der Mutter fort! erklärte Marie. »Ach!« seufzte sie, »es ist nicht mehr zum Aushalten gewesen, der ganze Schwindel! Die Dienstmädchen, die zehn Franken zahlten, um zu wissen, ob der Schatz ihnen treu sei; die Kaufleute, die Rat wollten für eine Spekulation; die Politiker, denen die Mutter bestätigen mußte, daß sie wieder gewählt würden… Und zum Schluß kam noch der Bankdirektor. Aber dieser Herr kam wegen mir. Und wissen Sie, Onkel Studer, ich glaub', die Mutter schien nicht einmal etwas dagegen zu haben, daß ich mit dem Bankdirektor… Da bin ich eines Tages abgereist… «
Studer war aufgefahren. Er stand dem Meitschi gegenüber. Wie hatte ihn die Marie genannt? Onkel Studer? Das verschlug ihm den Atem… Aber, b'hüetis, was war dabei? Er hatte das Meitschi geduzt, nach alter Berner Manier. Hatte da die Marie nicht ebenfalls das Recht auf eine gewisse Familiarität? Onkel Studer! Es wärmte… Exakt wie Bätziwasser.
»Wenn du schon«, sagte Studer, und seine Stimme klang ein wenig heiser, »Onkel sagst, dann sag wenigstens: Vetter Jakob. Onkel! Das sagen die Schwaben… «
Marie war rot geworden. Sie blickte dem Wachtmeister ins Gesicht und sie hatte eine besondere Art, die Leute anzusehen: nicht eigentlich prüfend, mehr erstaunt – ruhig erstaunt, hätte man es nennen können. Studer fand, diese Art des Anschauens passe zu dem Mädchen. Aber er konnte sich vorstellen, daß sie anderen Leuten auf die Nerven fiel.
»Gut! Also!« sagte Marie. »Vetter Jakob!« Und gab dem Wachtmeister die Hand. Die Hand war klein, kräftig. Studer räusperte sich.
»Du bist abgereist… schön. Nach Paris hat mir dein Onkel erzählt. Mit wem?«
»Mit dem ehemaligen Sekretär meines Vaters. Koller hieß er. Er kam uns einmal besuchen und erzählte, er habe sich selbständig gemacht und brauche jemanden, zu dem er Vertrauen haben könne. Ob ich ihn begleiten wolle, als Stenotypistin? Ich hatte die Handelsschule besucht und sagte ja… «
Pelzjackett, seidene Strümpfe, Wildlederschuhe… Langte das Salär einer Sekretärin für so teure Anschaffungen? Studer vergrub die Hände in den Hosensäcken. Ihm war ein wenig traurig zumute; darum rundete er den Rücken und fragte:
»Warum bist du jetzt auf einmal zur Mutter gefahren?«
Wieder der merkwürdig prüfende Blick.
»Warum?« wiederholte Marie. »Weil der Koller plötzlich verschwunden ist. Von einem Tag auf den anderen. Vor drei Monaten, dreieinhalb. Genau: am fünfzehnten September. Viertausend Franzosenfranken hat er mir zurückgelassen, und mit dem Geld hab' ich gelangt – bis Ende Dezember. Da hab' ich grad noch genug gehabt, um nach Basel zu fahren.«
»Warum bist du nicht mit deinem Onkel gefahren?«
»Er hat allein fahren wollen.«
»Hast du das Verschwinden angezeigt?«
»Ja. Auf der Polizei. Sie hat die Papiere beschlagnahmt… Ein gewisser Madelin hat sich um die Sache gekümmert. Einmal hat er mich vorgeladen… «
Ein Satz!… Ein Satz!… War er nicht zu erwischen, der Satz, den Kommissär Madelin gesprochen hatte, an jenem Abend, da Studer ihm das Telegramm vom neuen Jakobli gezeigt hatte? Was hatte Madelin da zum lebendigen Konversationslexikon Godofrey gesprochen:
»… Es stimmt etwas nicht mit den Papieren des Koller… « Das war es. Handelte es sich um den gleichen Koller?
Studer fragte:
»Wo hat deine Mutter die Andenken an deinen Vater aufbewahrt?«
»Im Schreibtisch«, erwiderte Marie und wandte dem Raume wieder den Rücken zu. »In der zweituntersten Schublade.«
In der zweituntersten Schublade…
Sie war leer. Doch das allein wäre nicht allzu auffällig gewesen.
Auffällig aber war, daß der Einbrecher, der sie aufgebrochen hatte, sorgsam ein abgesplittertes Stück Holz wieder eingesetzt hatte. Studer schob die leere Schublade zu, dann folgte er dem Beispiel seines Vorgängers und paßte das Holzstückchen genau an seinen Platz. Er richtete sich auf, zog sein Nastuch aus der Tasche, beugte sich noch einmal zur Schublade herab und rieb dort alles sauber. Dazu murmelte er: »Man kann nie wissen… «
»Finden Sie etwas, Vetter Jakob?« fragte Marie, ohne sich umzuwenden.
»Die Mutter hat's wohl an einem andern Ort verräumt… «,