Palmengrenzen. Gerhard Köpf

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Palmengrenzen - Gerhard Köpf

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Motiv fehlt jede Spur. Bei Nachfragen erhält man die stereotype Antwort: Zu den laufenden Ermittlungen können wir aus taktischen Gründen keine weiteren Angaben machen. Das bedeutet alles und nichts.

      Bruno Ziegler hatte keine Feinde. Sein Tod muss meines Erachtens etwas mit seiner letzten Reise nach Mailand zu tun haben, und er muss etwas gewusst oder gesehen haben, das ihn das Leben kostete. Hatte ihm sein letzter obskurer Bekannter, der ebenfalls ermordete Hotelier Aniello Sidara, ein Geheimnis anvertraut, über das nichts in seinen Aufzeichnungen stand? Mussten die beiden Männer deshalb sterben? Ein Sprichwort der Mafia sagt: Drei können ein Geheimnis wahren, wenn zwei tot sind.

      Da es Bruno Ziegler nie um persönliche Reichtümer oder materielle Güter zu tun war, konnte es auch irgendetwas mit dem Allgäu zu tun haben, dem Land, aus dem er stammte und dem er sich, im Gegensatz zu mir, mit wachsender Sorge verbunden fühlte.

      Außer seinen Kleidern konnten jene Papiere Zieglers sichergestellt werden, die ich mit ausdrücklicher Zustimmung der Staatsanwaltschaft dem Leser hiermit übergebe.

      Damit verbinde ich die aufrichtige Hoffnung, etwas zur Aufklärung des scheußlichen Verbrechens an meinem besten Freund beitragen zu können. Sollten Sie also etwas wissen, verehrte Damen und Herren, so bitte ich Sie inständig, sich zu melden. Jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein, und jeder, dem etwas Verdächtiges aufgefallen ist oder der von dem außergewöhnlichen Fall Kenntnis hat, möge sich umgehend mit der Polizei oder der Staatsanwaltschaft in Verbindung setzen. Dabei kann auf Wunsch auch Vertraulichkeit zugesichert werden.

      Bruno und ich kannten uns seit vielen Jahren. Wir stammten beide aus dem Allgäu, beide studierten wir in München, lebten ein Jahr gemeinsam in Rom und haben uns trotz unterschiedlicher beruflicher und privater Entwicklungen nie aus den Augen verloren. Beide hatten wir eine bewegte Jugend hinter uns. Um diese zu charakterisieren, muss die Chiffre 68 genügen. Allerdings war ich nicht so kompliziert gestrickt wie er. Bruno entschied sich damals für Jura und interessierte sich zuletzt für die Kulturgeschichte der Henkersmahlzeit, ich wurde Apotheker und sammle seit Jahren Schneekugeln der Marke Rosebud. Wir waren beide verwitwet und ohne Nachkommen, gewissermaßen die letzten Mohikaner.

      Insbesondere in den letzten Jahren nach unserer Pensionierung hat sich unser Kontakt wieder intensiviert. Wenn Bruno gerade nicht auf Reisen war, sahen wir uns mehrfach wöchentlich oder telefonierten miteinander. Beide lebten wir zurückgezogen und nahmen kaum noch am kulturellen Leben teil, zumal es überwiegend von Prosecco-Intellektuellen beherrscht wurde. Im Alter nimmt die Zahl der Freunde auf natürliche Weise ab. Alte Feindschaften unterliegen demselben Gesetz, und zu neuen hat unsere Energie nicht mehr gereicht. Die großen Schlachten waren geschlagen, für Prügeleien waren wir zu alt. Dafür trafen wir uns in Cafés und plauderten über Rotwein, tote Dichter und die Politik. Dabei zitierte Bruno gern Karl Heinz Bohrer, der die Kohl-Republik einst eine „Fußgängerzone des Geistes“ genannt hatte, und er stellte zuletzt die Frage: Und heute?

      Zwischen uns gab es nur ein Tabu: Das Thema Krankheiten. Darüber wurde geschwiegen. Ebenso über die Adressen irgendwelcher medizinischer „Spezialisten“. Wir besaßen auch keine E-Bikes und spielten weder Tennis noch Golf. Stattdessen tauschten wir uns über unsere Forschungen als Privatgelehrte aus und führten jene sokratischen Dialoge fort, die wir Mitte der 80er-Jahre in Rom im Restaurant Al Pompiere begonnen hatten. Vor diesem Hintergrund geistiger Verbundenheit bestimmten wir uns, wie notariell hinterlegt, wechselseitig als Nachlassverwalter. Deshalb bin ich im Besitz der folgenden Aufzeichnungen.

      Es gab für uns alte Knaben nicht mehr viel, was wir wirklich ernst nahmen. Wir gehörten jener wertekonservativen Generation an, die allmählich im Aussterben begriffen ist. Unser Interesse an Frauen war erfahrungsgemäß nur noch von einer sanften, selbstironischen Misogynie geprägt. Wir glichen Darstellern in einem alten Film, den man schon hundertmal gesehen hat, den man in- und auswendig kennt, was jedes Mal zutiefst beruhigend wirkt und einen gründlich davon abhält, sein Leben doch noch ändern zu wollen.

      Jetzt bin ich allein beim Frühstück und an den Abenden, und gleiche jenen alten Männern, die in dunklen Anzügen irgendwo im Süden auf Bänken sitzen, den Hut ins Gesicht gezogen, die mit ihren Stöcken im Sand scharren und bei mildem Nachmittagslicht langsam durch die Erinnerungen segeln wie durch ein altes Gemälde.

      Alte Männer in der späten Sonne haben nicht mehr viel Zeit, um ein wenig Gold aus ihrer eigenen Geschichte zu waschen. Die Erinnerungen zerren an ihrem Gedächtnis wie ein junger Hund und wollen von der Leine gelassen werden. Ihre einzige Hoffnung für die Zukunft ist ein gnädiger Tod, der ihrer Enttäuschung, nicht fertig geworden zu sein mit dem richtigen Leben, zuvorkommt. Das Ungestüme ist schon lange aus ihren Augen gewichen, denn sie haben im Leben gelernt, im rechten Augenblick wegzuschauen. Das macht sie zuversichtlich, das Schlimmste nicht mehr erleben zu müssen, weil sie es bereits hinter sich haben. Noch immer glauben sie, von den alten Zeiten etwas in Pacht zu haben, und immer weiter möchten sie sprechen, wie Kinder, die abends nicht ins Bett wollen. Die in den Kies gezeichneten Kreise gleichen geheimnisvollen Zeichen, die auch diese Alten nicht deuten können, obgleich sie alle etwas mit Vergänglichkeit zu tun haben angesichts des bescheidenen Genusses, den die täglich zager werdende Sonne verspricht. Niemand kennt den Film, der vor dem inneren Auge der einsam schweigenden Männer auf der Parkbank abläuft, und keiner weiß, wo er beginnt und wie er endet.

      Aber ich will nicht schweigen, denn ich kann mich mit dem Tod meines besten Freundes und langjährigen Weggefährten nicht abfinden. Zwar habe ich meine eigene Theorie zum Mord an Bruno Ziegler, die ich schon x-fach zu Protokoll gegeben habe, doch mag ich noch so schlüssig argumentieren: Die offiziellen Stellen wollen meine Ansichten nicht teilen. Sie lehnen jedwede Beteiligung der Mafia ab und vertreten stur wie Ochsen die offizielle These, Bayern sei seit vielen Jahren der Spitzenreiter bei der Inneren Sicherheit. Nirgendwo sei es sicherer für die Bürger, zu leben und in Unternehmen zu investieren.

      So verkündet es vollmundig die Politik. Wollte man ihr Glauben schenken, so gäbe es weit und breit keine Mafia. Am wenigsten in den Allgäuer Dörfern.

      Aber wer glaubt schon der Politik? Sie übersieht die Kleinigkeit, dass auch die Cosa Nostra in den Dörfern entstanden und groß geworden ist.

      Auf den folgenden Seiten wird von meinem Freund gewissenhaft berichtet, wie sich langsam und unauffällig, versteckt hinter kleinen, harmlos scheinenden Geschäften die Mafia ausgebreitet und allmählich nach Norden verschoben hat, bis sie in den 80er-Jahren im Allgäu angekommen ist. Es ist die Geschichte einer ebenso verschwiegenen wie erfolgreichen Eroberung.

      Diente das Allgäu der Mafia zunächst als erholsames Rückzugsgebiet, so ist es heute eine effiziente Operationsbasis. Eine neue Generation ist jetzt aktiv. Man nennt sie die Geräuschlosen. Sie bomben keine Staatsanwälte mehr in die Luft, sondern sind soziale Aufsteiger, international aufgestellt, fachlich hoch qualifiziert, bis in Regierungskreise hinein bestens vernetzt und in erster Linie bestrebt, keinerlei Aufsehen zu erregen. Wo ihnen das gelingt, sind sie weitaus effizienter als ihre Väter, die noch wild um sich schossen.

      Deshalb stimmt ironischerweise zuletzt doch, was die Politik sagt und der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia schon in den 80er-Jahren prophezeite: Die Staatsmacht wird zum Schutzschild der Mafia. Nirgendwo ist es für die Mafia sicherer zu leben und in ihre Unternehmen zu investieren.

       Die Palmengrenze

      Non puoi aprire la porta del passato senza farle cigolare, lautet ein altes Sprichwort der Cosa Nostra: Man kann das Tor zur Vergangenheit nicht öffnen, ohne dass es knarrt. Jede Geschichte öffnet ein Fenster in die Vergangenheit, selbst wenn sie in der Gegenwart spielt, aber nicht jede Geschichte muss ein gutes Ende haben. Manche Geschichten haben gar kein Ende, weil sie noch immer andauern. Das könnte auch für diese Aufzeichnungen gelten.

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