Palmengrenzen. Gerhard Köpf
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Sidara wurde verurteilt, nahm das Urteil unter Zähneknirschen an, verzichtete auf Revision, erhielt jedoch nie Besuch im Gefängnis, wo er sich bald die einflussreiche Position eines Kalfaktors erquasselt hatte. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, verließ er um etliche Jahre und Erfahrungen reicher den Knast just mit jenem Musterkoffer in der Hand, mit dem er einst eingezogen war. Man hat lange nichts mehr von dem Mann mit der flinken Zunge gehört, denn die Zeit der Hausierer in Sachen Damenunterwäsche war definitiv abgelaufen. Er musste sich etwas Neues einfallen lassen, was bei seinen vielfältigen Talenten kein ernstes Problem war. Schon hatte er etwas mit Gastronomie im Auge: Eine Gelateria oder eine kleine Pizzeria, wie sie gerade in Mode kamen. Die Kontakte, die er während der letzten Jahre hinter Gittern knüpfen konnte, erwiesen sich als tragfähig. Man musste im Leben nur die richtigen Räder ölen und die alte Apothekerregel anwenden: Schmieren und salben hilft allenthalben.
Er musste jetzt nur noch seinen Sohn aus Campodivespe zurückrufen, damit dieser bald das neue Geschäft übernehmen konnte.
So fing es an.
Aus dem Sammelordner
In Band I seiner Schrift Theatrum poenarum oder Schauplatz derer Leibes- und Lebens-Straffen aus dem Jahre 1693 führt ein gewisser Jacob Döpler an, dass es in Ägypten als Bestätigung des Todesurteils galt, wenn der König dem armen Sünder Leckerbissen und Speisen von seiner Tafel sandte. Aus China berichtet Döpler: „Ehe die Richter zur Exekution der Strafe schreiten, erwägen sie das gefellete Urtheil zum dritten mahl: Unterdessen wird dem Gefangenen, so auf Aschenhaufen niedergesetzt, Essen und Trinken gegeben. Da nun keine Entschuldigung des Todes befunden, wird mit Glocken geläutet, das Geschütz abgeschossen und der Übelthäter zum Tode geführet.“
Campodivespe
Gleich nach Abschluss meines Studiums Ende der 60er-Jahre unternahm ich eine Reise in den Süden Italiens und kam auf meinen Wanderungen an der Fußspitze des Stiefels eines Tages in ein Städtchen namens Campodivespe. Zwar habe ich diesen kleinen Ort, der damals nicht mehr als fünfhundert Einwohner gezählt haben mag, nur ein einziges Mal besucht, bin aber später im Leben in Gedanken noch oft an ihn zurückgekehrt.
Campodivespe liegt knapp fünfzig Kilometer nordöstlich von Reggio Calabria an der Nordseite des Aspromonte im Tal des Flusses Torbolo. Die Nachbargemeinden tragen so schöne Namen wie Bagnara Calabra, San Procopio, Sant’Eufemia d’Aspromonte und Seminara.
Die ausgeblutete Gegend ist von großer Armut gezeichnet, und man darf dort außer einer Burg und einem interessant gearbeiteten Taufbecken in der Pfarrkirche keine größeren sehenswerten Kulturdenkmäler oder touristische Attraktionen erwarten. Die vielfachen Entbehrungen und das karge Leben haben die Gesichter der Menschen geprägt, die wie aus grobem Stein gehauen erscheinen und einem eine Ahnung davon geben, wie unsere Vorfahren in grauer Vorzeit ausgesehen haben mögen. So arm diese Menschen aber auch sein mögen, so sehr haben sie eine fast kindlich anmutende, mit anrührendem Pathos unterlegte Achtung vor allem, was mit Kultur, Kunst und Poesie zu tun hat. Und wenn sie darüber wie von etwas Fremdem, ja Unerreichbarem sehnsuchtsvoll sprechen, so eignet ihren Worten bisweilen eine eigenartig getragene Überhöhung, die einem kühlen Nordeuropäer gänzlich fremd erscheint.
Da ich mich von den Strapazen der Wanderung ein wenig erholen wollte, beschloss ich, in Campodivespe Quartier zu nehmen und mietete mich in einem Albergo ein, zu dem im Erdgeschoss auch eine Trattoria namens Pastello gehörte. Kaum hatte ich mein Zimmer bezogen und im Haus meine Mahlzeiten eingenommen, wurde ich von der Wirtin, einer Witwe namens Lucrezia Bordoni, wie ein Familienmitglied umsorgt. Schließlich komme nicht jeden Tag ein Ausländer nach Campodivespe. Ich wurde ebenso geschickt wie ausgiebig über mein Woher und Wohin ausgefragt und stand angesichts der herzlichen Gastfreundschaft gern Rede und Antwort. Zugleich fand ich heraus, dass in Campodivespe fast alle entweder Bordoni oder Sidara hießen. Der Postbote war nicht zu beneiden.
Ein Wort gab das andere, und so erfuhr ich von Signora Bordoni eines Abends eine seltsame Geschichte, die sie mir vermutlich nur deshalb erzählt hat, weil ich ihr etwas verschämt angedeutet hatte, ich sei ein junger deutscher avvocato, der zum ersten Mal nach Italien reise und beabsichtige, darüber zu schreiben. Wenn die Menschen dort so etwas hören, fallen sie sogleich in eine Art Staunen, das getragen ist von der Hoffnung, in dem Buch vorzukommen und dadurch auf geheimnisvolle Weise, wie mit dem Zauberstab im Märchen, von ihrem Elend erlöst zu werden. Und zu diesem Fest, so malen sie sich dann in ausufernden Phantasien gestenreich vor, sängen die Zikaden, und die Eidechsen huschten im Reigen über die heißen Steine.
Ich sei übrigens beileibe nicht der erste Dottore, der sich auf seltsame Weise von Campodivespe inspiriert fühle, denn diese Mauern übten offenbar besonders auf Poeten eine rätselhafte Anziehung aus. Sätze voller Schönheit und Schwermut legten ein beredtes Zeugnis davon ab. Woran das liege, habe sie, ihres Zeichens Lehrerin, Posthalterin und Pensionswirtin, zwar noch nicht herausgefunden, doch sei sie der Sache dicht auf den Fersen und der Lösung des Rätsels nah wie nie zuvor.
Also sprach die Witwe Bordoni, die schon frühmorgens im Nachthemd aus weißem Bauernleinen am Küchentisch saß und las, vormittags die Kinder in der Schule unterrichtete, wegen ihres Fernwehs am liebsten in Geographie, nachmittags das Postamt bediente, abends aber in ihrer bescheidenen Trattoria ihre Gäste umgarnte, aushorchte, mit der Geschwindigkeit eines Lastkahns bediente, einheimische Speisen auftischte und diese mit kreuzqueren Geschichten aus Campodivespe würzte.
Der Wind pfiff um das Haus, es prasselte von den Dächern, irgendwo schlug aufdringlich ein loser Fensterladen, und der dichte graue kalabresische Landregen wollte nicht aufhören, unentwegt gegen die Scheiben zu rauschen. Ich fror. Die Witwe Bordoni legte Holz im Kamin nach und begann mit ihrer Geschichte von Doktor Cataldo Sidara, dem einstmals einzigen Arzt in Campodivespe, der die Armen unentgeltlich behandelte und eigentlich ein weltberühmter Poet habe werden wollen. Aber kein Verlag habe seine Gedichte veröffentlicht. Bis nach Milano hinauf sei er gereist, doch immer habe man ihn abgewiesen oder vertröstet. Sämtliche namhaften Verlage Italiens habe er, Cataldo Sidara, wie ein armseliger Hausierer abgeklappert, doch er sei regelmäßig nicht einmal an der Loge des Pförtners vorbeigekommen. Immer wieder habe man ihn einfach stehen lassen. Kein Mensch könne ermessen, was es für ein Leben sei, ständig auf solche Weise gedemütigt zu werden, denn nichts anderes als eine Demütigung sei es ja, wenn man immer wieder stehen gelassen werde. Und so sei er, einem verarmten und heruntergekommenen Wanderzirkus gleich, eine Zeitlang von Verlag zu Verlag, von Stadt zu Stadt gezogen. Stets mit dem gleichen Resultat. Er kenne sie auswendig, diese dummen und erniedrigenden Sprüche: Der Dottore habe keine Zeit, der Dottore sei verreist, er solle sich schriftlich an den Dottore wenden …
Unverrichteter Dinge sei er wieder nach Campodivespe zurückgekehrt und habe sich dem Gespött der Leute aussetzen müssen. Dabei habe er doch seinen Namen neben dem Dantes in Marmor gemeißelt lesen wollen. Es sei ihm oft wie ein Wunder vorgekommen, dass er, der verkannte Doktor und Poet Cataldo Sidara, überhaupt sein Studium trotz zahlloser Krisen, einer unseligen Liebschaft und tiefer persönlicher Demütigungen und Niederlagen erfolgreich abgeschlossen habe.
Immer wieder einmal habe er in seiner bettelarmen Heimat aus Mitleid für