Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt

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Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx - Alfred Schmidt eva taschenbuch

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Es ist nicht möglich, durch lückenlose Deduktion das »Wirkliche« in den Griff zu bekommen. Feuerbach drückt diesen Gedanken auf eine sehr scharfsinnige Weise aus: »Das Wirkliche ist im Denken nicht in ganzen Zahlen, sondern nur in Brüchen darstellbar. Diese Differenz ist eine normale – sie beruht auf der Natur des Denkens, dessen Wesen die Allgemeinheit ist, im Unterschied von der Wirklichkeit, deren Wesen die Individualität ist. Daß aber diese Differenz nicht zu einem förmlichen Widerspruch zwischen dem Gedachten und dem Wirklichen kommt, dies wird nur dadurch verhindert, daß das Denken nicht in gerader Linie, in der Identität mit sich fortläuft, sondern sich durch die sinnliche Anschauung unterbricht. Nur das durch die sinnliche Anschauung sich bestimmende und rektifizierende Denken ist reales, objektives Denken – Denken objektiver Wahrheit.«26

      Indem Marx, über Feuerbach hinausgehend, nicht nur die sinnliche Anschauung, sondern die gesamte menschliche Praxis als konstitutives Moment in den Erkenntnisprozeß einführt, wird er zugleich der Feuerbachschen Forderung gerecht, daß sich die neue Philosophie »toto ge­nere von der alten«27 zu unterscheiden habe. Erst indem sich Feuerbachs Autoritäten Mensch und Natur als dialektische Momente der Praxis erweisen, gelangen sie zu ihrer Konkretion. Wie Feuerbach spricht auch Marx von der »Priorität der äußeren Natur«28. Freilich mit dem kritischen Vorbehalt, daß alle Priorität nur eine innerhalb der Vermittlung sein kann.

      Wenn Marx die Natur – das Material menschlicher Tätigkeit – als dasjenige bestimmt, was nicht subjekteigen ist, was in den Weisen menschlicher Aneignung nicht aufgeht, was mit den Menschen schlechthin unidentisch ist, so versteht er diese außermenschliche Wirklichkeit doch nicht im Sinne eines unvermittelten Objektivismus, also ontologisch. Bei Feuerbach steht das mit bloßen Naturqualitäten ausgestattete Gattungswesen Mensch als leerbleibende Subjektivität29 der Natur als toter Objektivität passiv-anschauend, nicht praktisch-tätig gegenüber. Was Feuerbach als Einheit von Mensch und Natur bezeichnet, bezieht sich nur auf das von ihm romantisch verklärte Faktum der Naturentsprungenheit des Menschen, nicht aber auf seine geschichtlich-gesellschaftlich vermittelte Einheit mit der Natur in der Industrie, eine Einheit, die auf allen Stufen ebenso Verschiedenheit, Aneignung eines Fremden, Auseinandersetzung ist. Feuerbachs Mensch tritt nicht als eigenständige Produktivkraft auf, sondern bleibt an vormenschliche Natur gefesselt. Zwar setzt körperliches Tun diese Naturbasis als einen bewußtseinstranszendenten Gegenblock voraus. Alle Arbeit ist Arbeit an einem festen Sein, das sich jedoch gegenüber den Subjekten ebensosehr als ein Nichtiges, Durchdringbares erweist. Feuerbachs anthropologische Hervorhebung des Menschen gegenüber der sonstigen Natur bleibt abstrakt. Natur insgesamt ist für ihn ein geschichtsfremdes, homogenes Substrat, dessen Auflösung in eine Dialektik von Subjekt und Objekt den Kern der Marxschen Kritik bildet. Natur ist für Marx Moment menschlicher Praxis wie zugleich die Totalität dessen, was ist. Indem Feuerbach unreflektiert bloß auf der Totalität beharrt, verfällt er naiv-realistisch in den Mythos einer »reinen Natur«30 und identifiziert in ideologischer Weise31 das unmittelbare Sein der Menschen mit ihrem Wesen. Es kommt Marx nicht in den Sinn, Hegels Weltgeist durch ein ebenso metaphysisches Prinzip, wie eine materielle Weltsubstanz es wäre, einfach zu ersetzen. Er verwirft den Hegelschen Idealismus nicht abstrakt wie Feuerbach, sondern sieht in ihm die Wahrheit in einer noch unwahren Gestalt ausgedrückt. Daß die Welt eine durchs Subjekt vermittelte ist, sieht der Idealismus richtig. Marx meint jedoch, diesen Gedanken erst dadurch in seiner vollen Tragweite nach Hause bringen zu können, daß er nachweist, was es mit dem eigentümlichen Pathos des »Erzeugens« von Kant bis Hegel auf sich hat: der Erzeuger einer gegenständlichen Welt ist der gesellschaftlich-historische Lebensprozeß der Menschen. Daß mit der beginnenden Neuzeit das außermenschliche Natursein immer mehr zum Moment gesellschaftlicher Veranstaltungen herabgesetzt wird, reflektiert sich philosophisch darin, daß die Bestimmungen der Objektivität in immer höherem Maße ins Subjekt einwandern, bis sie schließlich in der vollendeten nachkantischen Spekulation ohne Rest in ihm aufgehen. Der Produktionsprozeß bleibt demzufolge auch bei Hegel, trotz großartiger empirischer Einsichten im einzelnen, im ganzen doch ein geistiger. In Hegels Logik, sagt Feuerbach, ist das Denken »in ununterbrochener Einheit mit sich selbst; die Gegenstände desselben sind nur Bestimmungen des Denkens, sie gehen rein im Gedanken auf, haben nichts für sich, was außer dem Denken bliebe«32. Der Widerspruch von Subjekt und Objekt wird bei Hegel innerhalb des Subjekts als des Absoluten aufgehoben. Sosehr auf den einzelnen Stufen des dialektischen Prozesses Nichtidentität das weitertreibende Moment ist, so sehr triumphiert doch am Ende des Systems idealistische Identität. Umgekehrt setzt sich in der Marxschen Dialektik in letzter Instanz das Nichtidentische durch, und zwar gerade, weil Marx im Gegensatz zu Feuerbach die Bedeutung der Hegelschen Dialektik voll anerkennt: »Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form ...«33

      Unter der »mystischen Form« der Hegelschen Dialektik versteht Marx die idealistische Fassung des Gedankens der Vermitteltheit alles Unmittelbaren. An Feuerbachs Naturmonismus hält er insofern fest, als auch für ihn Subjekt und Objekt »Natur« sind. Zugleich überwindet er dessen abstrakt-ontologischen Charakter dadurch, daß er Natur und alles Naturbewußtsein auf den Lebensprozeß der Gesellschaft bezieht. Da die vermittelnden Subjekte, endliche, raumzeitlich bestimmte Menschen, selber ein Stück der durch sie vermittelten dinglichen Wirklichkeit sind, führt der Gedanke der Vermitteltheit des Unmittelbaren in seiner Marxschen Version nicht zum Idealismus. Bei Marx erweist sich die Unmittelbarkeit der Natur, sofern er sie Feuerbach gegenüber als gesellschaftlich geprägt herausstellt, nicht als verschwindender Schein, sondern ihre genetische Priorität gegenüber den Menschen und ihrem Bewußtsein bleibt bestehen.

      Die außermenschliche Wirklichkeit, von den Menschen zugleich unabhängig wie mit ihnen vermittelt oder doch vermittelbar, beschreibt Marx mit den von ihm synonym gebrauchten Termini »Materie«, »Natur«, »Naturstoff«, »Naturding«, »Erde«, »gegeständliche Daseinsmomente der Arbeit«, »gegenständliche« oder »sachliche Arbeitsbedingungen«. Insofern auch die Menschen einen Bestandteil dieser Wirklichkeit bilden, ist der Marxsche Naturbegriff identisch mit der Gesamtwirklichkeit34. Der Begriff der Natur als der Gesamtwirklichkeit läuft jedoch auf keine abschlußhafte »Weltanschauung« oder dogmatische Metaphysik hinaus, sondern umschreibt lediglich den Denkhorizont, in dem der neue Materialismus sich bewegt, der nach einem Wort von Engels in der Erklärung der Welt aus sich selbst besteht35. Dieser Begriff von Natur ist »dogmatisch« genug, um alles, was bei Marx Mystizismus oder Ideologie heißt, aus der theoretischen Konstruktion auszuschließen; er ist zugleich undogmatisch und weitherzig genug gefaßt, um zu vermeiden, daß Natur nun ihrerseits eine metaphysische Weihe erhält oder gar zu einem letzten ontologischen Prinzip erstarrt.

      Natur in diesem umfassenden Sinne ist der einzige Gegenstand der Erkenntnis. Sie schließt die Formen der menschlichen Gesellschaft so in sich ein, wie sie umgekehrt nur vermöge dieser Formen gedanklich und wirklich erscheint. Darin dem Feuerbachschen Sensualismus verhaftet, geht Marx von der Sinnlichkeit als »Basis aller Wissenschaft«36 aus. Materialistische Theorie ist ihm mit wissenschaftlicher Haltung schlechthin identisch: »Nur wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt, sowohl des sinnlichen Bewußtseins als des sinnlichen Bedürfnisses ausgeht – also nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht – ist sie wirkliche Wissenschaft.«37

      Die sinnliche Welt und die endlichen Menschen in ihrer jeweiligen sozialen Verflechtung – Wesen und Erscheinung zugleich – sind die einzigen Größen, mit denen die Marxsche Theorie rechnet. Es gibt für Marx im Grunde nur »den Menschen und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der anderen Seite«38. Aus der objektiven Logik der menschlichen Arbeitssituation versucht er, die Struktur auch der anderen Lebensbereiche zu begreifen: »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.«39

      Am Bilde ihres jeweiligen Kampfes mit der Natur orientiert, deuten die Menschen in den verschiedenen Sphären ihrer Kultur die Welt, wobei für Marx wie für Feuerbach alle sich auf supranaturale Seinsregionen beziehenden Vorstellungen Ausdruck einer negativen Organisation des Lebens sind. Die geschichtliche Bewegung40 ist eine wechselseitige Beziehung von Menschen zu Menschen und zur Natur.

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