Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt
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Noch einmal geht er auf die Frage der Materie in der »Dialektik der Natur« ein: »Die Materie und Bewegung kann ... gar nicht anders erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewegungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto auch die Materie und Bewegung als solche.«52
Neuere Versuche einer Systematisierung des dialektischen Materialismus verzichten ebenso ausdrücklich auf den Begriff der Materie als eines substantiellen »Trägers« sekundärer Akzidentien. Wie der Geist, so ist auch die Materie kein absolut »fundamentales«, kein einheitliches Erklärungsprinzip der Welt: »Im Gegensatz zum metaphysischen Materialismus verwirft der dialektische Materialismus die Vorstellung von einem ›letzten‹, unveränderlichen Wesen der Dinge‹, von einer ›absoluten Grundsubstanz‹, auf deren ›endgültige‹ Eigenschaften und Erscheinungen sich alles Existierende zurückführen lasse. In der Natur gibt es nichts Unveränderliches und keine absolute Grundsubstanz.«53
Sosehr diese dialektische Fassung des Materiebegriffs beweist, daß Engels und die sich an ihn anschließende heutige Philosophie in Rußland der Gefahr einer Ontologie sich bewußt sind und ihr entgehen möchten, sowenig kann das gelingen, wenn sie mit dem Begriff Materie die Entstehung des Universums überhaupt verständlich machen wollen. Wo immer Materie zur umfassend-metaphysischen Welterklärung herangezogen wird, geht man von ihr, ob man will oder nicht, als von einem allgemeinen Prinzip aus, nicht aber von einer ihrer konkreten Daseinsweisen. Auch darauf weist Engels in einem Fragment seiner »Dialektik der Natur« hin: »Causa finalis – die Materie und ihre inhärente Bewegung. Diese Materie keine Abstraktion. Schon in der Sonne die einzelnen Stoffe dissoziiert und in ihrer Wirkung unterschiedslos. Aber im Gasball des Nebelflecks alle Stoffe, obwohl separat vorhanden, in reine Materie als solche verschwimmend, nur als Materie, nicht mit ihren spezifischen Eigenschaften wirkend.«54
Nur, wo mit Marx die materielle Realität als je schon gesellschaftlich vermittelt anerkannt wird, läßt sich Ontologie vermeiden und kommt die Engelssche Formulierung wirklich zu ihrem Recht, daß Materie als solche eine Abstraktion ist, daß nur bestimmte Daseinsweisen der Materie existieren.
Sehr wesentlich für das Verständnis des Zusammenhangs des Marxschen mit dem philosophischen Materialismus überhaupt ist auch die traditionelle Frage nach dem Sinn von Geschichte und Welt. Die materialistische Dialektik ist nicht-teleologisch, so merkwürdig das zunächst klingen mag. Weder ist ihr die Geschichte eine chaotische Faktensammlung wie für Schopenhauer noch ein einheitlich-geistiger Sinnzusammenhang wie für Hegel. Marx verselbständigt die Geschichte nicht pantheistisch. Am ehesten noch nimmt sein Denken eine rechtfertigend-idealistische Färbung an, wo er mit Hegel auf die unumgängliche Notwendigkeit von Herrschaft und Grauen in der »Vorgeschichte« verweist. Zwar kommt durch die einander gesetzmäßig ablösenden Gesellschaftsformationen so etwas wie eine übergreifende Struktur in die menschliche Geschichte, keineswegs aber im Sinne einer durchgehenden »Teleologie«. Die Welt als Ganzes sieht Marx keiner einheitlichen sinnverleihenden Idee unterworfen. Es gibt bei ihm einzig, was Hegel den »endlich-teleologischen Standpunkt«55 nennt: endliche Ziele endlicher, raumzeitlich bedingter Menschen gegenüber begrenzten Bereichen der natürlichen und gesellschaftlichen Welt. Der Tod als das antiutopische Faktum par excellence »erweist ... die Ohnmacht aller sinngebenden Metaphysik und jeder Theodizee«56. Alle in der Wirklichkeit auftretenden Ziele und Zwecke gehen zurück auf Menschen, die ihren sich wandelnden Situationen gemäß handeln. Abgelöst von ihnen gibt es keinen Sinn. Nur wo das Subjekt wie Hegels Geist welthaft zu einem unendlichen ausgeweitet wird, können seine Zwecke zugleich die der Welt selber sein. Hegel gilt der »endlichteleologische Standpunkt« als etwas Beschränktes, in die Theorie des absoluten Geistes Aufzuhebendes. Marx dagegen weiß von keinen anderen Zwecken in der Welt als denen, die von Menschen gesetzt sind. Sie kann daher nie mehr Sinn enthalten, als es den Menschen gelungen ist, durch die Einrichtung ihrer Lebensverhältnisse zu realisieren. Auch wenn eine bessere Gesellschaft herbeigeführt wird, wird damit der leiderfüllte Weg der Menschheit zu ihr hin nicht gerechtfertigt: »Daß die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirklicht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann, ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt. Zwischen diesen beiden Tatsachen gibt es eine Reihe von erklärenden Zusammenhängen, aber keinen rechtfertigenden Sinn.«57
Dadurch, daß Marx nicht von der Vorstellung eines den Menschen vorgegebenen Gesamtsinnes ausgeht, wird Geschichte zu einer Abfolge immer wieder neu einsetzender Einzelprozesse, begreifbar nur von einer Philosophie der Weltbrüche, die bewußt auf den Anspruch lückenloser Deduktion aus einem Prinzip verzichtet. Wer die seitherige menschliche Geschichte begreift, hat damit keineswegs einen Sinn der Welt überhaupt begriffen. Eine Formulierung wie die folgende aus Hegels »Vernunft in der Geschichte« wäre für Marx völlig undenkbar: »Wir müssen in der Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den Endzweck der Welt, nicht einen besonderen des subjektiven Geistes oder des Gemüts, ihn müssen wir durch die Vernunft erfassen, die keinen besonderen endlichen Zweck zu ihrem Interesse machen kann, sondern nur den absoluten.«58
Das in mancher Hinsicht allzu metaphysische Marxverständnis Ernst Blochs ist unter anderem gekennzeichnet durch die in seinen Schriften immer wieder auftretende These, auch in der Marxschen Philosophie gebe es so etwas wie einen Endzweck der Welt. Er spricht in einer seiner Arbeiten59, ganz wie Hegel, von dem »wohlfundierten Realproblem eines ›Sinns‹ der Geschichte, in Verbindung mit einem ›Sinn‹ der Welt«, das dem dialektischen Materialismus aufgegeben sei. Es wird bei der Darstellung der Marxschen Utopie des Verhältnisses von Mensch und Natur zu erörtern sein, welche Konsequenzen aus Blochs Annahme eines Weltsinnes bei Marx sich für seinen Utopiebegriff ergeben. Hier ist im Zusammenhang mit dem Problem des Weltsinnes noch auf einen anderen Gesichtspunkt aufmerksam zu machen. Marx verteidigt seinen unerbittlichen Atheismus nicht nur unter Hinweis auf die Resultate der modernen Naturwissenschaften60 oder ideologiekritisch. Ähnlich wie für Sartre ist für Marx die Möglichkeit der Freiheit des Menschen nur durch die Nichtexistenz eines »sinnstiftenden« Gottes verbürgt. Der Mensch ist essentiell nicht festgelegt. Noch ist sein Wesen nicht total erschienen. Konträr, in der seitherigen Geschichte, die sich ja als »Vorgeschichte« dadurch auszeichnet, daß die Menschen ihrer eigenen Kräfte gegenüber der Natur nicht mächtig sind, wurde das menschliche Wesen brutal unter die materiellen Bedingungen der Erhaltung ihrer Existenz subsumiert. Zu einer realen Versöhnung von Wesen und Existenz gelangt die menschliche Gattung nur, sofern sie sich zunächst theoretisch als die Ursache ihrer selbst begreift. Hierauf gehen besonders die Pariser Manuskripte ein: »Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines andern lebt, betrachtet sich als abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines andern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat, wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine Schöpfung ist.«61
Marx weist die ontologisch gestellte Frage nach dem Schöpfer des ersten Menschen und der Natur als ein »Produkt der Abstraktion«62 zurück: »Frage dich,