Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt
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Ganz ähnlich unterscheidet Engels in der »Dialektik der Natur« die Natur- von der Menschengeschichte: »Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschieden.«93
Natur- und Menschengeschichte bilden für Marx eine Einheit in der Verschiedenheit. Dabei löst er weder die Menschengeschichte in pure Naturgeschichte auf noch die Naturgeschichte in Menschengeschichte.
Auf der einen Seite ist zwar die Geschichte der Gesellschaft ein »wirklicher Teil der Naturgeschichte«94, setzen sich in ihr die für die vormenschliche Geschichte charakteristischen Sachverhalte fort, so daß Marx die Produktionsinstrumente, durch deren Herstellung und Anwendung die Menschen sich wesentlich von den Tieren unterscheiden, als »verlängerte Leibesorgane«95 bezeichnen kann. Wie die Tiere, so müssen auch die Menschen sich ihrer Umgebung anpassen. Dazu bemerkt die »Dialektik der Aufklärung«: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte – und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zweck dienen und nur besser funktionieren – ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpassung.«96
Demgegenüber ist auf der anderen Seite die spezifische Differenz zwischen geschichtlichen Abläufen in der Natur und in der Gesellschaft nicht zu vernachlässigen. Sie läßt es nicht zu, daß, wie bei den verschiedensten Spielarten des Sozialdarwinismus, Naturgesetze einfach auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden. In einem Brief an Kugelmann kritisiert Marx scharf den Versuch F. A. Langes, sich über den Reichtum der menschlichen Geschichte auf abstrakt-naturwissenschaftliche Art hinwegzusetzen: »Herr Lange hat ... eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) ›struggle for life‹, ›Kampf ums Daseins‹, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungsoder rather Übervölkerungsgesetz. Statt also den ›struggle for life‹, wie er sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ›struggle for life‹ und diese Phrase in die Malthussche ›Bevölkerungsphantasie‹ umzusetzen.«97
Von Naturgeschichte läßt sich im Grunde nur reden, wenn man die von bewußten Subjekten gemachte Menschengeschichte voraussetzt. Sie ist deren rückwärtige Verlängerung und wird von den Menschen als nicht mehr zugängliche Natur mit denselben gesellschaftlich geprägten Kategorien erfaßt, die sie auf die noch nicht angeeigneten Naturbereiche anzuwenden genötigt sind.
Gerade am Darwinismus wird deutlich, wie außerordentlich voraussetzungsvoll alle Aussagen über die Natur und ihre Geschichte sind. Wie bewußt sich dessen Marx bei aller »naturgeschichtlichen« Betrachtungsweise der Gesellschaft ist, geht sehr schön hervor aus einem Brief an Engels, in dem es heißt: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt. Es ist Hobbes’ ›bellum omnium contra omnes‹ und es erinnert an Hegel in der Phänomenologie, wo die bürgerliche Gesellschaft als ›geistiges Tierreich‹, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert ...«98
In Übereinstimmung mit Marx zeigt Engels in einem Brief an P. L. Lawrow, daß bestimmte, den bürgerlichen Verhältnissen und ihrer gedanklichen Widerspiegelung entlehnte Lehren, nachdem sie auf die Entwicklung der organischen Natur angewandt worden sind, von den Sozialdarwinisten als angeblich reine Naturgesetze der Gesellschaft aufgenötigt werden: »Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlich-ökonomischen nebst der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht, ... so rücküberträgt man dieselben Theorien aus der organischen Natur wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft nachgewiesen.«99
Innerhalb der Marxschen Schule spielt die sozialdarwinistische Betrachtungsweise der Geschichte eine große Rolle in Karl Kautskys Werk »Die materialistische Geschichtsauffassung«. Die Einheit der menschlichen mit der vormenschlichen Entwicklungsgeschichte verabsolutierend, gelangt Kautsky zu der Ansicht, »daß die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet, mit eigenartigen Gesetzen, die aber in Zusammenhang stehen mit den allgemeinen Gesetzen der belebten Natur«100. Eben diese »eigenartigen Gesetze« der Gesellschaft sind es, die bei Kautsky unter den Tisch fallen. Während für Marx die kosmische und biologische Entwicklungsgeschichte nur die »naturwissenschaftliche Unterlage«101 seiner Geschichtsauffassung bilden, ihr Hauptanwendungsgebiet aber die Geschichte der Gesellschaft ist, stülpt Kautsky dieses Verhältnis um. Die menschliche Geschichte ist ein Anhängsel der Naturgeschichte, ihre Bewegungsgesetze bloße Erscheinungsformen biologischer. Karl Korsch, übrigens einer der wenigen Autoren in der umfangreichen Marxliteratur, bei denen sich ein Verständnis der komplizierten Dialektik von Natur und Geschichte findet, kritisiert nachdrücklich Kautskys Entstellung der Marxschen Geschichtstheorie: »Nicht die Natur oder die organische Natur und ihre Entwicklungsgeschichte im allgemeinen, und auch nicht einmal die menschliche Gesellschaft in ihrer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, sondern die moderne ›bürgerliche Gesellschaft‹ bildet für sie (Marx und Engels, A. S.) die wirkliche Grundlage, aus der alle früheren geschichtlichen Gesellschaftsformen materialistisch zu begreifen sind.«102 Die Frage nach dem Verhältnis von Natur- und Menschengeschichte hat für Marx auch einen ideologiekritischen Aspekt. In der Tat ist es bis heute ein festes Bestandstück der Verteidigung von Herrschaft gewesen, historisch-gesellschaftlich bedingte Tatbestände wie Kriege, Verfolgungen und Krisen in unabwendbare Naturtatsachen umzufälschen. Marx hat zunächst die Klassenverhältnisse im Auge, wenn er sagt: »Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.«103
Marx kennt keine starren Gegebenheiten, weder solche der geistigen noch solche der biologisch-materiellen Natur des Menschen. In seiner Kritik an Max Stirner in der »Deutschen Ideologie« bemerkt er: »Wie Sancho bisher alle Verkrüppelungen der Individuen und damit ihrer Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte, ohne sich um die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärte er diese Verkrüppelung jetzt aus dem bloßen Naturprozeß der Erzeugung. Er denkt nicht im entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppelungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden können. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassenunterschiede etc., von denen Sancho gar nicht spricht, können und müssen historisch beseitigt werden.«104
Die hier behandelte Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte hat schließlich noch eine methodisch-wissenschaftstheoretische Seite. Seit Dilthey und der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus ist es üblich geworden, historischen und Naturwissenschaften prinzipiell verschiedene Forschungsweisen zuzuordnen. Unterscheidet Dilthey zwischen kausal »erklärender«, den Naturwissenschaften eigentümlicher und intuitiv »verstehender« Methode der historischen Geisteswissenschaften,