Vom Himmel in die Hölle. Christian Wilhelm Huber

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Vom Himmel in die Hölle - Christian Wilhelm Huber

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er sich wieder an all die verlockenden Gerüche, die ihm im Geschäft der Tante Anna in die Nase gestiegen waren. Er spürte den unverwechselbaren Geruch von Holzpantoffeln, Stoffen, Sauerkraut, Heringen, Peitschen für kleine Jungs und Kautabak, Priem genannt. Und eine Melancholie ergriff ihn, sodass er minutenlang innehielt.

      Irgendwann schlug er die nächsten Seiten auf. Da las er von Glasarbeitern seiner Familie, die sich in dem Dorf ihre reetgedeckten Holzfachwerkhäuser errichteten. Das Reetdach war damals das Dach armer Leute, heute ist es die wohl teuerste Art der Eindeckung. Die Glasarbeiter hatten eine kleine Landwirtschaft von fünf Hektar Grund, auf dem sie Roggen und Kartoffeln anbauen konnten, eine Wiese, die das Heu für die Kühe lieferte, drei Schweine, zwei Kühe und Hühner. Die landwirtschafliche Arbeit besorgten die Frauen, die außerdem noch ihre vielen Kinder aufzogen. Manchmal half noch ein Großelternteil im Haus mit. Der arbeitsfreie Sonntag war für die Männer in der kleinen Landwirtschaft fast das ganze Jahr über ein voller Arbeitstag.

      Das Holz des großen Orkans von 1747 war knapp zehn Jahre später bis auf wenige Reste verarbeitet, und die Glashütte wurde geschlossen. Die meisten Arbeiter blieben, denn sie lebten längst nicht mehr ausschließlich von ihrer Arbeit, sondern hatten eine kleine Landwirtschaft aufgebaut und waren Selbstversorger. Bei den meisten reichten deren Erträge freilich nicht zum Lebensunterhalt, und so mussten sie andere Berufe erlernen. Damit entwickelte sich aus dem Dorfteil Meiersberg eine Handwerkersiedlung. Die Herkunft der Glasarbeiter ist nicht genau bekannt, doch es ist anzunehmen, dass viele aus dem Südwesten Deutschlands kamen.

      Der andere Teil des Ortes, ein Bauerndorf gleich im Anschluss am westlichen Rand des bereits bestehenden Glashüttendorfs, entstand im Sommer 1749. Die Ansiedlung ging auf eine Initiative des preußischen Königs Friedrich II. zurück, der bestrebt war, Siedler in sein menschenarmes Land zu locken, um die durch seine zahlreichen Kriege verursachten Menschenverluste auszugleichen. Die Bauern dieses Dorfteils kamen aus Mecklenburg und Schwedisch-Pommern. Deren Vorfahren waren zum größten Teil im Zuge der Ostkolonisation durch den Deutschen Orden um 1100 aus Schleswig-Holstein zugezogen. Daher erklärt sich das hiesige Plattdeutsch, das dem Holsteinischen ähnelt. Außerdem gibt es hier Familiennamen, die auch in Schleswig-Holstein gebräuchlich sind. Der Name der Familie Ehlert kommt dort häufig vor, mehr noch die Pluralform Ehlers.

      In anderen Dörfern kamen viele Siedler aus Südwestdeutschland. Die Bauern bekamen Hofstellen mit einer Größe von 20 Hektar zugewiesen. Damit waren sie Vollerwerbslandwirte. Dieser Dorfteil wurde Schlabrendorff genannt. Denn es war üblich, neu entstandene Dörfer nach hohen preußischen Beamten der Kriegs- und Domänenkammern Stettin und Berlin zu benennen, obwohl sie schon Namen hatten. So nannte sich Aschersleben, das frühere Hühnersdorf, nach dem Kammerpräsident Georg Wilhelm von Aschersleben. Blumenthal, früher Schale Heide, wurde benannt nach dem Wirklichen Geheimen Etats-, Kriegs-, dirigierenden Minister, Exzellenz Adam Ludwig von Blumenthal zu Berlin, und das frühere Brandhorst erhielt den Namen des Geheimen Rats und Kammerdirektors Ernst Wilhelm von Schlabrendorff. Diese Praxis hatte sich schon unter König Friedrich Wilhelm I. eingebürgert, der anlässlich einer Inspektionsreise vier Dörfer nach seinen Söhnen umbenannt hatte: Ferdinandshof, Friedrichshagen, Wilhelmsburg und Heinrichswalde, früher Mückenhorst.

      Da den plattdeutsch sprechenden Dorfbewohnern Schlabrendorff zu holperig klang, machten sie daraus Schlabberndorf. Das klang etwas abwertend, und so hat man sich wohl auch vom Klang her für Meiersberg entschieden. In kirchlichen Urkunden wurde aber noch in den 1930er-Jahren der traditionelle Name Schlabrendorff verwendet.

      Die Handwerker aus der ursprünglichen Glasmachersiedlung arbeiteten später als Maurer, Zimmerleute und in Ziegeleien. Viele waren in einer Eisengießerei, in der »Guss«, tätig. Denn im Ueckermünder Kreis fand sich in geringer Tiefe Raseneisenstein in einer mitunter nur zwanzig Zentimeter dicken Schicht, die das Pumpenwasser bräunlich färbte. Plattdeutsch wurde dieser wertvolle Rohstoff als »De root Voss«, der rote Fuchs, bezeichnet. Der Abbau dieser stark eisenhaltigen Schicht führte zur Gründung mehrerer Eisengießereien. Alles, wirklich alles, was in und um Meiersberg in Vorpommern steht, das wusste Gerhard Ehlert nach dem zwölften und letzten Kirchenbuch, das er jetzt wehmütig aus der Hand legte, gründete also auf Asche – der Asche, für die der Orkan 1747 Futter geliefert hatte.

      Ehlert will noch schnell das Bild von Riele in sich wachrütteln, doch es bleibt ihm keine Sekunde mehr, er muss sich ganz aufs Fliegen konzentrieren, kurvt mit der Maschine von links nach rechts und umgekehrt, um der Flak unten keine gerade Flugbahn zum Vorhalten zu bieten. Der Bleistift in der Glaskuppel springt wie wild von einer Seite auf die andere.

      »Verdammt, wir müssen hier raus, Herr Leutnant«, krächzt Schlotter in sein Kehlkopfmikrofon. »Hart nach rechts, Herr Leutnant.«

      An allen Ecken und Enden kracht es jetzt. Die weißen Wölkchen, die die Granaten der Flugabwehrgeschütze bei ihrer Explosion hinterlassen, kommen immer näher an die Maschine heran. Der Professor setzt noch einmal mit zitternder Stimme einen Funkspruch an ihr Flugfeld ab, gibt die letzte Position durch, obwohl er nicht genau weiß, wo sie wirklich sind. Als er den Beschuss meldet, bekommt er vom Boden »VG.VG.VG« zurück. Viel Glück, viel Glück, viel Glück! Dann bekommt das Seitenleitwerk den ersten Splitter ab, was Ehlert sofort in massive Schwierigkeiten bringt. Die Do 217 lässt sich kaum noch steuern. Der Flugzeugführer setzt seine ganze Kraft ein. Schweiß rinnt ihm von der Stirn in seine Fliegermaske. Und dann schaltet er instinktiv die automatische Steuerung ein. Die Maschine nimmt einen pfeilgeraden Kurs ein, was der Flak das Zielen erleichtert.

      Die Nacht ist ausgesprochen hell, Vollmond, klarer Himmel. Es ist 1.15 Uhr, die Zeit, die später im Kriegstagebuch der 2. Luftflotte eingetragen wird. Daneben der Satz: Funkverkehr mit »K7 + FK« reißt ab. Die Flughöhe beträgt zu diesem Zeitpunkt nur mehr 80 Meter. Das ist gut, denkt sich Ehlert, je tiefer wir sind, desto schneller sind wir über die Flakstellungen weg. Doch da hat er die Rechnung ohne die Russen gemacht. Plötzlich bekommt die Do 217 Geschützfeuer von hinten. Da die russischen Soldaten zu viel Zeit brauchen, um die tieffliegende deutsche Maschine direkt ins Visier zu bekommen, schießen sie einfach hinter Ehlert und seinen Kameraden her – und treffen. Zuerst bekommt der rechte Motor einen Volltreffer ab und beginnt sofort zu brennen. Dann ist es, als werde das ganze Flugzeug von einer gewaltigen Schrotflinte durchsiebt. Überall splittert Glas, und scharfe Metallteile segeln durch die Luft. Überall, wo Benzin ist, in den Tragflächen, in Schläuchen und Leitungen, brennt es jetzt lichterloh. Die Do 217 von Leutnant Gerhard Ehlert sieht aus wie ein Komet mit Feuerschweif.

      Die Männer sitzen im Flugzeug wie Münchhausen auf seiner Kanonenkugel, die irgendwann den Zenit ihrer Flugbahn überschritten haben muss und danach unbarmherzig auf der Erde einschlagen wird. Für die russischen Kanoniere am Boden ist das ein schöner Anblick, für die deutsche Besatzung ein verzweifelter Überlebenskampf. Und als ob der ganze Feuerzauber nicht schon genug wäre, fährt den Männern in ihrem brennenden Sarg jetzt ein Schrei in die Ohren, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Professor ist getroffen. Ein Granatsplitter hat ihm das Gesicht aufgerissen, die Nickelbrille aus dem Gesicht geschlagen. Blutüberströmt ringt er nach Luft. Burr lässt sein Maschinengewehr sofort sinken und klettert zum Professor nach vorne. Der schreit immer noch um sein Leben. Mehr und mehr geht das Schreien in ein Röcheln über. Als Burr endlich bei Unteroffizier Williges eintrifft, sieht er sofort, dass dem Jungen nicht mehr zu helfen ist. Das scharfe Eisenteil der Granate hat die Halsschlagader verletzt. Der Professor blutet aus einer großen Wunde, kann nicht mehr sprechen, wimmert und röchelt und starrt seinen Kameraden, den Bordschützen Willi Burr, mit dem einen Auge, das unverletzt blieb, flehend an. Hilf mir, will es sagen, das heile Auge. Und dann sieht der Professor hinter einem Schleier aus Blut und Tränen das Gesicht von Burr, der sich über ihn beugt und ihm verzweifelt ein lächerlich kleines Verbandspäckchen auf die Schlagader presst. Im Gesicht seines Kameraden erkennt der Professor, dass er verloren ist, dass er sterben wird, hier und jetzt, über dieser gottverdammten Frontlinie in diesem gottverdammten Flieger, den es bald nicht mehr geben wird.

      Burr kann sich nicht verstellen, kann dem tödlich getroffenen Kameraden

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