Freie und faire Wahlen?. Michael Krennerich

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Freie und faire Wahlen? - Michael Krennerich страница 4

Freie und faire Wahlen? - Michael Krennerich Politisches Sachbuch

Скачать книгу

Beispiele können Belarus und Aserbaidschan gelten oder die zentralasiatischen Autokratien, bei denen allenfalls in Ansätzen ein politischer Wettbewerb inszeniert wird. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Ausrufung unabhängiger Republiken gewannen die Langzeitpräsidenten von Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan ihre Wahlen nicht selten mit Mehrheiten über 90 % der Stimmen. Konkurrierende Bewerber um das Präsidentenamt sind dort bis heute reine „Zählkandidaten“, und die wenigen Oppositionsparteien im Parlament imitieren mehr parlamentarischen Pluralismus, als dass sie Oppositionsarbeit betreiben. Ähnliches gilt für etliche Autokratien anderer Weltregionen. Nehmen wir als Beispiel das kleine, wenig beachtete Äquatorialguinea: Trotz der Zulassung von Mehrparteienwahlen im Jahr 1991 regierte der dortige autokratische Präsident Teodoro Obiang Nguema Mbasogo seit 1979 mit uneingeschränkter Regierungsmehrheit im Parlament und ist damit der weltweit am längsten amtierende Staats- und Regierungschef. Wahlen gewinnen er und seine Partei ebenfalls stets mit über 90 % der Stimmen.

      Als Kern der liberalen Demokratie werden Wahlen verschiedene Funktionen zugeschrieben, die traditionell anhand etablierter Demokratien in Westeuropa und Nordamerika entwickelt worden sind.9 Die Erfahrungen mit demokratischen Wahlen in anderen Weltregionen blieben – mit wenigen Ausnahmen – hingegen lange Zeit unterbelichtet. Erst im Zuge der Demokratisierungswelle(n) des ausgehenden 20. Jahrhunderts erlangen die dortigen Wahlen wieder verstärkt Aufmerksamkeit. Nach den oft nur kurzen Erfahrungen mit Mehrparteienwahlen im Rahmen der Entkolonialisierung in Afrika und Asien sowie der Aussetzung kompetitiver Wahlen in vielen südamerikanischen Diktaturen wurde nunmehr (wieder) die Frage aufgeworfen, welche Funktionen demokratische Wahlen außerhalb Westeuropas und Nordamerikas überhaupt einnehmen (können). Um derartige Fragen beantworten zu können, war und ist jedoch ein allgemeines Verständnis demokratischer Wahlfunktionen vonnöten.

      In diesem Sinne sind die ursprünglich auf westliche Demokratien bezogenen Funktionskataloge nicht einfach ad acta zu legen. Sie dienen als wichtige Orientierungspunkte, von denen ausgehend – aber unter Berücksichtigung der je besonderen politischen, soziökonomischen und kulturellen Bedingungen – sich Funktionen kompetitiver Wahlen auch in anderen Weltregionen sinnvoll betrachten lassen. Dies ist nötig, um Wahlen im „globalen Süden“ an die vergleichende Wahlforschung anzuschließen. So zeigen beispielsweise Umfragen des Afrobarometers, dass die „Nachfrage“ nach einer liberalen Demokratie in Afrika durchaus groß ist, selbst wenn die „Angebotsseite“ zu wünschen übrig lässt.10 Zugleich sind Wahlgänge in Afrika nicht nur, wie reichlich verkürzt behauptet wurde, „ethnische Zensus“, bei denen die Wahlberechtigten nach ethnischer Zugehörigkeit ihre Wahlstimme abgeben, „typischerweise“ begleitet von Stimmenkauf und Gewalt.11 Auch in den Staaten Afrikas und anderer Regionen des globalen Südens gibt es ernsthafte Bestrebungen, demokratische Wahlen durchzuführen, die sich – bei allen Besonderheiten – an denselben Grundfunktionen orientieren wie Wahlen in etablierten Demokratien. Von grundsätzlicher Bedeutung sind dabei vier allgemeine Funktionskomplexe:

      1) Funktionen, die sich auf die Übertragung von politischer Macht und die Zuweisung von Herrschafts- und Oppositionspositionen beziehen: Einem liberal-pluralistischen Demokratieverständnis zufolge vergibt der demos in demokratischen Wahlen einen verfassungsmäßig formulierten „Herrschaftsauftrag auf Zeit“, so ein geflügeltes Wort von Theodor Heuss, und überträgt damit zeitlich begrenzt politische Macht an die künftigen Herrschaftsträger. Demokratische Wahlen üben also die Funktion aus, politische Macht zu übertragen, und statten zu diesem Zweck – für gewöhnlich in Parteien oder Wählerbewegungen organisierte – Personen in Form von politischen Mandaten mit Herrschaftsbefugnissen aus. Dies gilt auch dann, wenn die in diesem Zusammenhang vielfach betonte Regierungsbildungsfunktion nur vermittelt zutage tritt.12 Bei demokratischen Wahlen wird jedoch nicht nur ein Herrschaftsauftrag vergeben, sondern auch das Parlament gewählt und die parlamentarische Opposition eingesetzt, welcher, normativ betrachtet, insbesondere die Aufgabe zukommt, die politische Herrschaftsausübung zu kontrollieren und sich für einen Machtwechsel bereitzuhalten.

      2) Eng mit der Übertragung politischer Herrschaftsbefugnisse in Verbindung steht die Legitimationsfunktion demokratischer Wahlen. Mittels Wahlen wird die Ausübung politischer Herrschaft zeitlich begrenzt legitimiert. Indem die Wählerschaft in freien und fairen Wahlen ihre Regierung bzw. ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten bestätigt oder neu bestellt, kommt in Wahlen entweder ein Konsens (der im schwachen Sinne auch das Akzeptieren bzw. Dulden umfasst) oder ein Dissens bezüglich der Herrschenden und deren Politik zum Ausdruck. Die Legitimationsfunktion demokratischer Wahlen bezieht sich dabei vornehmlich auf die Inhaber der über Wahlen direkt oder indirekt vergebenen politischen Mandate. Eine demokratisch gewählte Regierung gilt, bei aller oft berechtigten Kritik an Politikstil und Politikinhalten, weithin als legitim ins Amt gebracht. Die Legitimationskraft umfasst aber, normativ betrachtet, auch die Opposition. Gerade in der vollen Anerkennung der Opposition liegt eine Besonderheit wirklich kompetitiver Wahlen. Nicht von ungefähr wird in Großbritannien die Opposition traditionell als „Her Majesty’s Most Loyal Opposition“ bezeichnet. Dabei legitimieren demokratische Wahlen nicht nur die Träger, sondern auch das Prinzip politischer Opposition – und zwar sowohl in abstracto als auch in seiner konkreten organisatorisch-rechtlichen Ausformung, die sich u. a. in der Gewährung politischer Rechte auch für die Opposition ausdrückt. In diesem Sinne können Wahlen auch die Legitimität der politischen Ordnung samt ihrer „Spielregeln“ bestärken oder infrage stellen, je nachdem, ob die mit demokratischen Wahlen verbundenen Verfahrensregeln akzeptiert oder abgelehnt werden. Sofern die Wahlen demokratisch sind, kommt in ihnen eben auch ein Verfahrenskonsens zum Ausdruck, der die Rechte der politischen Minderheit umfasst. Zudem können Wahlen die Legitimität der im Wahlakt umfassten politischen Gemeinschaft stärken.13 Beispielsweise haben die ersten allgemeinen und freien Wahlen in der Republik Südafrika im Jahr 1994, trotz aller Spannungen vor den Wahlen, vorübergehend zur nationalen Einheit in der Post-Apartheid-Ära beigetragen, selbst wenn es dort später nicht wirklich zur Herausbildung der angestrebten „Regenbogennation“ gekommen ist.

      3) Funktionen, die sich auf die Repräsentation der vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen, Ansichten und Interessen beziehen: Während „Regierungen der nationalen Einheit“, welche die maßgeblichen politischen Kräfte eines Lands einbinden, selten sind und meist nur in Post-Konfliktsituationen vorkommen, sollen vor allem die gewählten Parlamente die gesellschaftliche Vielfalt repräsentieren und diese im parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess angemessen berücksichtigen.14 Eine hinreichende politische, soziale und territoriale Repräsentation im Parlament ist daher ein wichtiges Ziel demokratischer Wahlen, ohne dass dadurch jedoch die Bildung stabiler Regierungsmehrheiten im Parlament verunmöglicht werden soll. Dabei geht es nicht nur um eine – vom Wahlsystem abhängige – mehr oder minder proportionale Mandatsvergabe an die politischen Parteien, die deren Stimmenanteil in der Wählerschaft entspricht (die freilich in Mehrheitswahlsystemen zugunsten der Bildung von Regierungsmehrheiten gezielt eingeschränkt wird). Wichtig sind ebenso eine balanced gender representation oder eine angemessene Vertretung gesellschaftlicher Minderheiten oder unterschiedlicher Regionen im Parlament. Angesichts des hohen Altersdurchschnitts von Parlamenten wird inzwischen verstärkt auch eine stärkere Repräsentation von jungen Menschen im Parlament gefordert. Soll eine solche angemessene Repräsentation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gewährleistet werden, dann ist nach den vielfältigen Bedingungen zu fragen, unter denen kandidierende Personen antreten, aufgestellt und gewählt werden.15

      4) Funktionen, die sich auf die Gestaltung politischer Inhalte und Alternativen beziehen: Einem liberal-repräsentativen Demokratieverständnis zufolge ist die Wahl streng genommen keine inhaltliche Entscheidung, sondern eine Auswahl zwischen Personen. Wahlen entscheiden nicht primär über Sachprobleme, sondern darüber, wer die Sachprobleme entscheidet. In diesem Sinne stellt der demokratische Wahlakt zuvorderst eine Übertragung von Vertrauen an Personen oder Parteien dar. Gleichwohl kommen bei der

Скачать книгу