Freie und faire Wahlen?. Michael Krennerich

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Freie und faire Wahlen? - Michael Krennerich Politisches Sachbuch

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und Ziele, repräsentieren bestimmte Ansichten und Interessen der Wählerschaft. Soweit Wahlen also einen Konkurrenzkampf um politische Herrschaft auf Grundlage alternativer Sachprogramme darstellen (was nicht immer der Fall ist), haben die Wahlberechtigten die Möglichkeit, mit ihrer Wahlentscheidung zumindest die grundlegende inhaltliche Ausrichtung der Regierungspolitik mitzubestimmen. Dabei handelt es sich für gewöhnlich aber eher um ein allgemeines als um ein konkretes inhaltliches Mandat. Zugleich kann von Wahlen eine die Regierung begleitende Korrektivfunktion ausgehen. Da die Herrschaft nur auf Zeit verliehen und unter demokratischen Wettbewerbsbedingungen regelmäßig wieder zur Disposition gestellt wird, sind die Regierenden – ebenso wie die Opposition als ihre Herausforderer – dazu angehalten, die Ansichten und Interessen des Wahlvolks angemessen zu berücksichtigen. Prospektiv werden bei Wahlen politische Erwartungen an die gewählten Amtsinhaber gestellt und retrospektiv wird bei Wahlen ihre Leistung bewertet.16 Ziel ist dabei eine „Regierung, die auf die öffentliche Meinung hört und ihr verpflichtet ist“.17 Es geht bei demokratischen Wahlen also um elektorale Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht. Dabei bezieht sich die Rechenschaftspflicht letztlich auf das gesamte Wahlvolk und nicht etwa nur auf die Unterstützerinnen und Unterstützer der Regierenden.

      Aus Sicht eines liberal-pluralistischen Demokratieverständnisses bestimmen die vier Funktionskomplexe maßgeblich den allgemeinen Funktionsgehalt demokratischer Wahlen. Dabei kommt den Wahlen in liberalen Demokratien bereits insofern große Bedeutung zu, als sie – ebenso wie Volksabstimmungen – eine Form der politischen Mitwirkung darstellen, welche grundsätzlich die gesamte Wählerschaft einbezieht. Auch ist die Durchführung demokratischer Wahlen bereits definitorisch mit weiteren politischen Mitwirkungswirkungsmöglichkeiten im engeren oder weiteren Umfeld der Wahlen verbunden: von Wahlkampfaktivitäten, Wahlkandidaturen und allgemein der aktiven Mitwirkung in Parteien und Wählerinitiativen bis hin zur Nutzung einschlägiger politischer Rechte wie Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Ohne diese sind demokratische Wahlen gar nicht möglich. Daher hängt der demokratische Gehalt von Wahlen eng mit den demokratischen Wesenszügen von Politik und Gesellschaft in einem Land zusammen. Dies rückt auch die abfällige Rede von reinen „Wahldemokratien“ (electoral democracies) zurecht; denn sollen Wahlen wirklich demokratisch sein, benötigen sie immer auch ein demokratisches Umfeld.

      Nun sollten allerdings die normativ abgeleiteten oder idealtypisch entwickelten Funktionszuschreibungen nicht die politischen Zustände in liberalen Demokratien beschönigen. Zwar ist der altbekannte Sponti-Spruch „Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie schon längst verboten“ überzogen. Auch sind demokratische Wahlen nicht nur „Alibi-Veranstaltungen“, die einen Wettbewerb vorgaukeln, gesellschaftliche Antagonismen verschleiern und eine Blankovollmacht für konsensunabhängiges Entscheiden ausstellen.18 Vielmehr können Wahlen einen großen Unterschied machen, wer regiert und wie regiert wird. Präsident Nelson Mandela war – im Unterschied zu einigen seiner Nachfolger – beispielsweise ein Glücksfall für den friedlichen Übergang in der Republik Südafrika. Donald Trump wiederum ist eine Belastung, und zwar sowohl für die Demokratie in den USA als auch, polemisch gesprochen, für den Rest der Welt. Auch unterscheiden sich die Regierungsprogramme vieler politischer Parteien. Die politikwissenschaftliche Frage „Do parties matter?“ lässt sich im Hinblick auf Politikinhalte oft bejahen, selbst wenn große gesellschaftliche Probleme, von Armut bis Klimawandel, nur unzureichend politisch angegangen werden.

      Obwohl also die Fundamentalkritik an der angeblichen Bedeutungslosigkeit von Wahlen überzogen ist und nicht danach fragt, wie die politische Ordnung ohne einen demokratischen Wahlwettbewerb aussehen würde (oder tatsächlich aussieht), gibt es vielfältige Einschränkungen des demokratischen Bedeutungsgehalts von Wahlen. Dazu zählen etwa: verkrustete, elitäre Herrschaftsstrukturen und die Repräsentationsschwäche politischer Parteien, autoritäre Einstellungen und Verhaltensmuster, parochiale politische Untertanenkulturen und illiberale Herrschaftspraktiken, ausufernde Korruption und rechtsstaatliche Mängel, Medienoligopole und der überbordende Einfluss von Geld auf Wahlen oder auch die verbliebene Machtfülle nicht gewählter Akteure, wie etwa von Militärs oder Oligarchen. Zugleich sind vielerorts die sozialen Bedingungen, wie extreme Armut und eine ausgeprägte soziale Ungleichheit, einer wirksamen politischen Mitwirkung der Bevölkerung bei Wahlen nicht zuträglich.

      Inwieweit Wahlen demokratische Funktionen erfüllen, hängt somit maßgeblich davon ab, inwieweit sich in jungen Demokratien – oft unter schwierigen Bedingungen – demokratische Institutionen, Verfahren, Handlungsweisen und Einstellungen herausbilden und festigen und inwieweit auch in etablierten Demokratien die Wahlen dazu beitragen, verantwortliche Regierungen hervorzubringen und demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft zu verstetigen und zu vertiefen. Die Herausbildung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Kultur ist für gewöhnlich ein langwieriger Prozess, zumal in gesellschaftlich polarisierten und ethnisch fragmentierten Gesellschaften. In Ländern, in denen der Wahlsieg nicht nur den Zugang zu politischen Ämtern bedeutet, sondern zugleich mit der Vereinnahmung des Staatsapparats, mit dem Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen des Lands und mit einer gesellschaftlichen Vormachtstellung einhergeht, steht bei Wahlen viel auf dem Spiel, sind die Verluste bei einer Wahlniederlage hoch. Dort werden Mehrparteienwahlen rasch zu einem Nullsummenspiel auf Kosten gesellschaftlicher und politischer Minderheiten. Wahlen können zwar auch unter solch schwierigen sozioökonomischen und politisch-kulturellen Bedingungen dazu beitragen, Macht- und Herrschaftskonflikte friedlich auszutragen; sie tun dies aber nicht zwangsläufig. Mitunter sind sie auch „new battlegrounds“19 oder verstärken gar Machtkonflikte. Die häufig benannte befriedende Funktion kompetitiver Wahlen ist daher stark kontextabhängig.

      Auch müssen Demokratien den „Stresstest“ bestehen, dem sie aktuell durch das Erstarken von Populisten ausgesetzt sind. Vielerorts ist ein „konfrontativer Typus der Mehrheitsdemokratie“20 entstanden, in der – unter Verweis auf den „Volkswillen“ oder die Wählermehrheit – die Anliegen der politischen Minderheiten brüsk beiseitegeschoben werden. Dabei haben Negativwerbung und Diffamierungskampagnen ebenso wie Desinformationen und Fake News inzwischen wesentlichen Einfluss auf die Wahlentscheidung, selbst in gestandenen Demokratien. Offenkundig sind zudem die Handlungsspielräume demokratisch gewählter Regierungen meist viel kleiner als im Wahlkampf suggeriert wird. Das mussten die gewählten Linksregierungen in Griechenland während der dortigen Finanzkrise ebenso schmerzlich erfahren wie viele andere Staaten, die hoch verschuldet oder auf andere Art wirtschaftlich und politisch abhängig sind.

      ¿Para qué sirven las elecciones? (Wozu dienen Wahlen?) lautete der spanische Titel einer schon in die Jahre gekommenen Studie über Wahlen in nicht demokratischen Systemen.22 Wahlen sind selbst in Autokratien mehr als Dekoration. Autokraten binden Wahlen in ihre Herrschaftspraktiken ein und nutzen diese, um innen- und außenpolitische Legitimationsgewinne zu erzielen, um Unterstützergruppen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu kooptieren, um die Opposition zu teilen oder in die Schranken zu weisen. Indes: die Regierungsmacht bei Wahlen abzugeben, dazu waren und sind sie für gewöhnlich nicht bereit.

      1) Legitimation durch Wahlen: Autokraten gründen zwar ihre innenpolitische Legitimation nicht allein auf Wahlen, sondern gerade auch auf andere Legitimationsquellen – etwa auf persönliches Charisma oder auf traditionelle oder religiöse Herrschaftsansprüche.23 Mitunter können sie sich auch als Hüter der nationalen Einheit und Sicherheit profilieren, besonders angesichts etwaiger separatistischer Bewegungen, terroristischer Bedrohungen oder einer weitverbreiteten Kriminalität. Oder sie gerieren sich als Garanten des Wohls der Nation, des wirtschaftlichen Fortschritts oder revolutionärer Errungenschaften. Dabei können sich Wahlen in solche Legitimationsstrategien einfügen. Sie bieten findigen Autokraten die Gelegenheit, ihren Führungsanspruch eindrucksvoll zu unterstreichen. Mittels Wahlen können diese die Bevölkerung für die eigenen politischen Ziele mobilisieren und ihren – tatsächlichen oder vermeintlichen

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