Rätsel. Jan Morris

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Rätsel - Jan  Morris

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      Beide diese Ausblicke waren, wie es mir damals vorkam, mein eigen, und der Stolz auf diesen zwiefachen Besitz gab mir bisweilen das Gefühl, mir gehöre die ganze Welt, ich könne schauen, wohin ich wolle, und immer würde ich darin etwas von mir finden – ein ungesunder Hochmut, wie ich seither festgestellt habe, denn er führte dazu, dass mir später kein Land und keine Stadt den Besuch wert schien, wenn ich nicht ein Haus dort besaß oder ein Buch darüber schrieb. Und wie bei allen Napoleonfantasien fühlte man sich ziemlich einsam damit. Denn auch wenn all diese Gegenden mir gehörten, gehörte ich keiner bestimmten davon an. Die Menschen, die ich von meinem Hügel aus sehen konnte, die ihre Felder bestellten, ihre Läden versorgten, sich beim Ferienflirt am Meer vergnügten, lebten in einer anderen Welt. Sie alle lebten in Gemeinschaft, ich war ganz allein. Sie gehörten zum Club, ich war draußen. Sie redeten miteinander in Worten, die sie alle verstanden, über Dinge, die sie alle interessierten. Ich sprach eine Sprache, die allein mir gehörte, und was mir durch den Kopf ging, hätte sie nur gelangweilt. Manchmal fragte jemand, ob er durch mein Fernrohr sehen dürfe, und das machte mir großes Vergnügen. Dies optische Instrument spielte eine wichtige Rolle in meinen Tagträumen und Reflexionen, vielleicht weil es mir schien, als bekäme ich damit einen ganz persönlichen Einblick in fremde Welten, und als ich mit acht oder neun Jahren die ersten Seiten eines Buches schrieb, nannte ich es Auf Reisen mit dem Fernrohr – gar kein schlechter Titel, wenn man sich das überlegt. Und so war ich immer stolz, wenn jemand nach ein paar launigen Bemerkungen – »Das ist aber ein großes Fernrohr für einen kleinen Jungen! Wonach hältst du denn Ausschau – nach Gandhi?« – selbst hindurchsehen wollte. Zum einen war ich ein schrecklicher Angeber und stellte es immer mit einer einzigen Handbewegung für sie auf das Feuerschiff im Kanal scharf, das English and Welsh Grounds. Zum anderen kam ich mir durch den kurzen Kontakt normaler vor.

      Immer stand ich sozusagen neben mir und beobachtete mich genau, wie ich dort über die Hänge stolperte oder im weichen Gras in der Sonne lag. Der Hintergrund war, oder ist es zumindest in meiner Erinnerung, strahlend und klar, wie auf einem Gemälde der Präraffaeliten. Der Himmel mag nicht immer so blau gewesen sein, wie ich ihn im Gedächtnis habe, aber auf alle Fälle war er kristallklar, und der einzige Rauch mochte von einem Kohlenschiff kommen, das sich den Kanal hinaufarbeitete, oder in der Ferne die Schlieren, die immer über den Tälern von Swansea hingen. Habichte und Lerchen gab es in Massen, überall Kaninchen, Wiesel flitzten durch das Farnkraut, und manchmal kam über die Kuppe, gemächlich mit einem tiefen Brummen, der tägliche De-Havilland-Doppeldecker auf seinem Flug nach Cardiff.

      Weit weniger klar und eindeutig war dagegen das, was in meinem Inneren vorging. Die Vorstellung, dass ich das falsche Geschlecht hatte, war nur ein unbestimmtes Gefühl, und das in den Tiefen meines Verstandes verstaut; ich war nicht unglücklich, aber den Eindruck, dass da etwas nicht stimmte, hatte ich die ganze Zeit. Selbst da schon kam mir diese stille, frische Kindheit hoch über dem Meer seltsam unvollkommen vor. Es war eine Sehnsucht, aber ich wusste nicht wonach, als fehle aus meinem Muster ein Stück, oder als sei etwas an mir, das fest und dauerhauft sein sollte, statt flüchtig und diffus. Alles schien irgendwie eindeutiger für die Leute unten am Fuß des Hügels. Für sie schien das Leben vorbestimmt, als hielten sie wie die alte de Havilland unbeirrbar und zufrieden an ihrer täglichen Route fest, brummten friedlich vor sich hin. Ich war eher ein Segelflugzeug, leicht und anmutig vielleicht, aber doch ohne Richtung.

      Diese Verwunderung verließ mich nie, und heute sehe ich darin die Keimzelle zum Dilemma meines Lebens. Meine Landschaften waren Millais oder Holman Hunt, aber was in meinem Inneren zu sehen war, war reiner Turner, als ließe sich meine innere Unsicherheit nur in Wirbeln und Farbwolken malen, ein Nebel in mir. Wo dieses Bild sich befand, hätte ich nicht sagen können – in meinem Kopf, im Herzen, in meinen Lenden, im Blut. Ebenso wenig wusste ich, ob ich mich dessen schämen sollte, stolz darauf sein, dankbar dafür oder es verachten. Bisweilen schien mir, ohne es wäre ich glücklicher, zu anderen Zeiten stellte ich mir vor, dass es gewiss ein entscheidender Bestandteil meines Wesens war. Vielleicht würde ich eines Tages, wenn ich groß war, genauso massiv sein, wie andere Leute es anscheinend waren; andererseits war es mir aber vielleicht auch bestimmt, für immer ein ätherisches Wesen zu bleiben, ein Geschöpf aus Gischt, das fast gegenstandslos daherschwebte und sich jeder Berührung entzog.

      Ich beschreibe die Verwirrung in den Begriffen eines Rätsels, und etwas Geheimnisvolles bleibt. Im Grunde weiß keiner, warum manche Kinder, Jungen oder Mädchen, irgendwann in sich die durch nichts mehr zu vertreibende Überzeugung entdecken, dass sie, allen äußeren Anzeichen zum Trotz, eigentlich zum anderen Geschlecht gehören. Das geschieht schon im frühkindlichen Alter. Oft zeigen sich erste Anzeichen bereits beim Baby, und im Allgemeinen ist die Vorstellung, wie bei mir, mit vier oder fünf Jahren fest verankert. Manche Theoretiker gehen davon aus, dass das Kind damit geboren ist: Vielleicht gibt es noch unentdeckte körperliche oder genetische Faktoren, oder der Fötus ist während der Schwangerschaft fehlgeleiteten Hormonen ausgesetzt, wie amerikanische Forscher kürzlich zur Diskussion stellten. Weitaus größer ist jedoch die Zahl derer, die davon ausgehen, dass allein Faktoren der frühen Lebensumwelt beteiligt sind: zu große Identifizierung mit einem Elternteil, eine dominante Mutter oder ein übermächtiger Vater, ein Junge, der zu mädchenhaft aufwächst, ein Mädchen, das ein Raufbold ist. Andere stellen sich eine Mischung aus ererbten und Umwelteinflüssen vor – niemand wird mit rein weiblichen oder rein männlichen Merkmalen geboren, und manche Kinder mögen empfindlicher als andere gegenüber dem sein, was die Psychologen die »Prägung« durch äußere Einflüsse nennen.

      Wie dem auch sei, heute gibt es Tausende, womöglich Hunderttausende von Menschen, die von diesem Phänomen betroffen sind. Neuerdings wird es als Transsexualität bezeichnet, und in seiner klassischen Ausprägung unterscheidet es sich deutlich sowohl vom Transvestitentum als auch von der Homosexualität. Transvestiten und Homosexuelle glauben beide bisweilen, sie könnten glücklicher leben, wenn sie ihr Geschlecht änderten, aber in den meisten Fällen ist dies ein Irrtum. Ein Transvestit bezieht seine Befriedigung ja gerade daraus, dass er Kleider des anderen Geschlechts trägt, und würde dieses Vergnügen verlieren, wenn er dem anderen Geschlecht tatsächlich angehörte; und der Homosexuelle zieht per definitionem gleichgeschlechtliche Liebe vor und würde sich durch einen Wandel sich selbst und seinen Partnern nur entfremden. Transsexualität ist etwas grundsätzlich anderes. Es geht dabei überhaupt nicht um Sex. Es ist keine sexuelle Einstellung oder Vorliebe. Es ist eine leidenschaftliche, unauslöschliche, lebenslange Überzeugung, und keinen echten Transsexuellen hat man je davon abbringen können.

      Ich habe versucht, meine Emotionen als Kind zu analysieren, dahinterzukommen, was ich meinte, als ich mich zum Mädchen im Körper eines Jungen erklärte. Wie bin ich darauf gekommen? Was hatte ich als Beleg? Fand ich einfach nur, dass ich mich wie ein Mädchen betragen sollte? Fand ich, die anderen sollten mich als eines behandeln? Hatte ich beschlossen, dass ich, wenn ich groß war, lieber eine Frau als ein Mann sein wollte? Hatte irgendein grässliches Erbe des Weltkriegs, der meinen Vater zum Krüppel gemacht hatte und ihn schließlich umbrachte, mir die Leidenschaften und Instinkte der Männer widerwärtig werden lassen? Oder hatte einfach in den Monaten, die ich im Mutterleib zugebracht hatte, etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, die Hormone waren falsch gemischt, und es steckte überhaupt nichts Verstandesmäßiges dahinter?

      Freudianer und Freudgegner, Analytiker der Gesellschaft und der Umwelt, engste Freunde und bloße Bekannte, Verleger und Agenten, Männer Gottes und Männer der Wissenschaft, Zyniker und Empathiker, Lüstlinge und Tugendbolde – alle haben sie mir seither diese Fragen gestellt, und sehr oft schlugen sie auch Antworten vor, aber für mich ist und bleibt es ein Rätsel. Nicht zu ändern. Ich habe meine Kindheit hier in ein paar kurzen Impressionen beschworen, wie ein Ballett, das man durch einen Gazevorhang betrachtet; unbestimmt, weil ich mich daran nur noch erinnere wie an einen Traum, aber auch deswegen, weil ich ihr nicht die Schuld an meinem Dilemma geben will. In allem anderen war es eine bezaubernde Kindheit, und ich bin dankbar dafür bis zum heutigen Tag.

      Ich selbst sehe dieses Dilemma – ein Rätsel, einen Zwiespalt, wie immer man es nennen mag – in einer anderen Perspektive, denn für mich sind seine Ursprünge wie seine

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