Rätsel. Jan Morris

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Rätsel - Jan  Morris

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Identität an, sondern als das Streben nach Einheit. Für mich ist jeder Aspekt meines Lebens bedeutsam für dieses Streben – nicht nur die sexuellen Impulse, sondern all die Bilder, Klänge, Gerüche, an die wir uns erinnern, die Rolle, die Bauwerke spielten, Landschaften, Kameradschaften, die Macht der Liebe und der Trauer, die Befriedigung der Sinne ebenso wie die des Körpers. In meiner Vorstellung ist es ein Thema, das weit über Sexuelles hinausgeht: Es hat für mich nichts mit Lust zu tun, und in letzter Konsequenz ist es ein Dilemma weder des Körpers noch des Verstands, sondern eines der Seele.

      Aber es war natürlich doch etwas Sexuelles, was die vierzig Jahre nach diesem Rendezvous mit Sibelius beherrscht, was mich von anderem in meinem Leben abgehalten und mich gequält hat: das tragische und unvernünftige Streben danach – instinktiv auf den Begriff gebracht, doch mit vollem Bewusstsein verfolgt –, meiner männlichen Identität zu entkommen und meine weibliche zu finden.

      2

      Ein falsches Leben – das Singvogelnest – Oxford – ein kleiner Knoten – in der Kathedrale – ein Lachen

      Mit zunehmendem Alter spürte ich immer deutlicher den Konflikt, in dem ich lebte, mein ganzes Leben kam mir nun als ein falsches vor, eine Lüge. Es war eine Maskerade, ich kleidete meine weibliche Identität, von der ich nicht gewusst hätte, wie ich sie in Worte fassen soll, in die Hülle eines männlichen Auftretens. Psychiater haben oft gefragt, ob mir das Schuldgefühle bereitet habe, aber genau das Gegenteil war der Fall. Indem ich mir so sehnlich, so unablässig wünschte, in den Körper eines Mädchens zu schlüpfen, strebte ich ja nur nach einem höheren Zustand, einer inneren Harmonie; und diesen Eindruck schreibe ich nicht den Einflüssen meines Zuhauses, meiner Familie zu, sondern der Tatsache, dass ich schon früh nach Oxford kam.

      Oxford war mein Schicksal. Dort bin ich als junger Student gewesen, über viele Jahre meines Lebens habe ich ein Haus dort besessen – und auch mit meinem zweiten Kriterium Besitz von der Stadt ergriffen, denn ich schrieb ein Buch über sie. Aber wichtiger noch: Dort war meine erste Internatsschule; die Symbole, Werte und Traditionen Oxfords prägten meine frühen Jungenjahre und waren meine erste Begegnung mit einer Welt fort vom Elternhaus, weiter fort, als ich mit meinem Fernrohr blicken konnte. Ich sehe die Stadt, will ich hoffen, ohne Sentimentalität – ich kenne ihre Fehler nur zu gut. Aber sie bleibt für mich in ihrer zerlumpten, zerschundenen Integrität ein Bild dessen, was ich auf der Welt am meisten bewundere: eine Präsenz so alt und so wahrhaftig, dass sie den Lauf der Zeiten und alle Veränderungen in sich aufnimmt wie ein Prisma das Licht und nur immer vielfältiger und reicher dadurch wird, eine Stadt, der nichts fremd ist außer der Intoleranz.

      Natürlich meine ich, wenn ich von Oxford spreche, nicht einfach nur die Stadt oder die Universität, nicht einmal die Atmosphäre dort, sondern eine ganze Denk- und Lebensweise, eine eigene Kultur, ja eine eigene Welt. Ich kam als eine Abnormität dorthin, als innerer Widerspruch, und wären da nicht die Beweglichkeit, die Leichtigkeit, die Selbstironie gewesen, die ich aus dem Leben in Oxford in mich aufnahm – die Kultur und Kultiviertheit des traditionellen Englands –, ich glaube, dann wäre ich schon vor Langem bei jener letzten Zuflucht alles Abnormen gelandet, im Irrenhaus. Denn ganz nahe am Herzen des Oxforder Ethos liegt die wunderbare, tröstliche Wahrheit, dass es keine Norm gibt. Jeder von uns ist anders; keiner von uns hat jemals ganz unrecht; verstehen heißt verzeihen.

      Mit neun Jahren, 1936, wurde ich in die Universität Oxford aufgenommen, man wird meinen Namen im Jahresverzeichnis finden. Nicht etwa weil ich ein Wunderkind gewesen wäre, sondern weil ich meine erste Ausbildung dort an der Chorschule von Christ Church bekam, einem College von solchen Dimensionen, dass seine Kapelle zugleich auch die Kathedrale der Diözese von Oxford ist und ihren eigenen professionellen Chor unterhält. Keine andere Erziehung hätte mich stärker prägen können, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine andere Schule gegeben hätte, egal wo, die auf so eigentümliche Weise genau richtig für all meine inneren Bedürfnisse gewesen wäre. Ein Begriff von Jungfräulichkeit entstand in jenen Jahren in Christ Church in mir, ein Sinn für das Heilige und Zarte, und schließlich, ganz allmählich ging mir auf, dass dies das Weibliche sein musste – »das Ewig-Weibliche«, wie Goethe im letzten Vers seines Faust sagt, »zieht uns hinan«.

      Damals hatte die Chorschule der Kathedrale ihr alles andere als spektakuläres Quartier in einer von hohen Mauern gesäumten Gasse im Herzen der Stadt, und die Belegschaft beschränkte sich praktisch ganz auf die Choristen – insgesamt sechzehn Jungen. Wir waren eine mittelalterliche Einrichtung, und wir lebten wie im Mittelalter – ein Singvogelnest auf einem Oxforder Dachboden. Wir konnten eine Cricketmannschaft aufstellen, waren aber zu wenige, um gegeneinander zu spielen. Wir traten in Theaterstücken auf, aber nur in kleinen. Die Konzerte, die wir in der Schule gaben, waren glücklicherweise kurz. Wir hatten, konnte man sagen, nur einen einzigen Daseinszweck: Wir sangen geistliche Musik in der Kathedrale von Sankt Frideswide (ein Oxforder Heiliger, der, wie ich seither leider feststellen musste, anderswo als dubios gilt, wenn nicht gar als reine Erfindung), und hinter diesem Ziel hatte alles andere zurückzustehen. Was wir an Schulbildung bekamen, war solide, aber immer etwas sprunghaft, denn zweimal am Tag setzten wir unsere Baretts auf, legten die steifen Kragen um und schlüpften in die flatternden Talare, und dann überquerten wir im Gänsemarsch St. Aldate’s zur Kathedrale – genossen es, wenn die Touristen uns anstarrten, und manchmal kam uns, was recht komisch aussah, mit polternden Schritten in entgegengesetzter Richtung und ebenfalls im Gänsemarsch ein Trupp Polizisten mit Helm und schweren Stiefeln entgegen, auf dem Weg zur Hauptwache am unteren Ende der Straße.

      Heutige Pädagogen wären vermutlich entsetzt, wenn sie die Verhältnisse an unserer Schule sähen; wir müssen zu den kleinsten Internatsschulen in ganz England gehört haben, und dadurch waren natürlich auch die Bildungsmöglichkeiten begrenzt. Trotzdem sehe ich, wenn ich an meine Zeit dort zurückdenke, nichts als Güte und Schönheit. Oft hat man mir zu verstehen gegeben, dass die Konventionen jener nachviktorianischen Epoche der 1930er Jahre meine Wahrnehmung für alles Geschlechtliche verzerrt hätten. Damals stand ein Mann für alles, was hart war, er verdiente das Geld, er führte Kriege, hielt die Ohren steif, prügelte aufsässige Schuljungen, trug Stiefel und Helme, trank Bier; die Frau war für die sanfteren, weicheren Dinge da, sie heilte, tröstete, malte Bilder, trug Seide, sang, hatte Sinn für Farben, machte Geschenke, nahm Bewunderung entgegen. Aber solche Unterscheidungen akzeptierte in unserer Familie keiner, niemand wäre im Traum auf den Gedanken gekommen, dass Sinn für Musik, Farben, Textilien etwas typisch Weibliches sei; Tatsache ist allerdings, dass ich das weibliche Prinzip als etwas Sanftes im Unterschied zum Gewaltsamen sah, Vergebung anstelle von Bestrafung, ein Geben eher als ein Nehmen, eher Hilfe als Anführerschaft. Mir schien, in Oxford war diese Unterscheidung in einem Maße zu spüren, das es in, sagen wir, Cardiff oder sogar in London niemals gegeben hätte, und ich hatte schon das Gefühl, dass ich, indem ich mich so bereitwillig dem Zauber der Stadt ergab, mich auf einen spezifisch weiblichen Einfluss einließ. Das denke ich bis heute, und vom damaligen bis zum heutigen Tag habe ich Oxford immer als eine »Sie« gesehen – bin sogar, was ein Kritiker mir einmal vorgehalten hat, altmodisch dem Brauch der schlimmsten viktorianischen Belletristen gefolgt und habe stets das weibliche Pronomen dafür verwendet.

      Viel von ihrer Schönheit war rein äußerlich, und so war auch mein Vergnügen daran äußerlicher Natur. Jeden Nachmittag zogen wir zu unserem Spielfeld auf Christ Church Meadow, einem langgestreckten Feld unterhalb der Mauern von Merton. Es war ein Ort, den ich liebte, und ich habe mich ihm, wenn ich heute daran zurückdenke, hingegeben wie der Dichter Marvell seinem geliebten Garten:

      Ich strauchle an Melonen und1

      Verstrickt in Blumen fall zu Grund.

      Drei große Kastanienbäume standen in der Ecke, und dort lag ich gern, vom langen, feuchten Gras verborgen, in der stillen, süßduftenden Schwere eines Oxforder Sommernachmittags. Frösche kamen bis nach dort oben herauf und sorgten für Unterhaltung; aus den Augenwinkeln sah ich Grashüpfer

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