Wo sind sie geblieben. F. John-Ferrer

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Wo sind sie geblieben - F. John-Ferrer

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      Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014

      ©2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

       www.rosenheimer.com

      Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 101I-596-0398-4A /

      Fotograf: Ohlenbostel

      Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

      eISBN 978-3-475-54318-0 (epub)

      November 1943

      Über der zerschossenen Stadt hängt ein trostlos grauer Himmel. Es hat tags vorher geschneit, doch der Schnee ist nicht liegengeblieben. Vom Fluss herüber streicht ein nasskalter Wind, der in den Trümmern herumstöbert und jammernd um schwärzliche Ruinen weht, über denen Brandgeruch liegt. Die zerwühlten Straßen bedeckt fußhoher Schlamm. Lehmfarbenes Wasser hat sich in den unzähligen Granattrichtern angesammelt und kräuselt sich unter den Stößen des Ostwindes.

      Die Straßen sind gespenstisch leer.

      Ab und zu, in unberechenbaren Zeitabständen, paukt es jenseits des träge dahinschiebenden Flusses, und wenige Augenblicke später fliegt mit hohlem Rauschen der Tod heran, das Endstück seines Weges pfeifend, kreischend zurücklegend. Der Rest ist ein schwärzlich kochender Rauchpilz, den der Wind zerweht.

      Störfeuer auf Tscherkassy. Jeden Tag und jede Nacht.

      Alles Leben scheint vernichtet, die Straßen zwischen den Trümmerstätten sind unheimlich leblos.

      Wo sind die Menschen, die einstmals diese Stadt bewohnt haben; die ihre Häuser bauten; die Fenstersimse mit Blumen schmückten; die das Gärtchen liebevoll bepflanzten? Wo sind jene, die einstmals froh zur Arbeit gingen und müde zu ihren Familien heimkehrten? Wo ist das Lachen geblieben? Wo ist der Nachbar, mit dem man über den Zaun hinweg schwatzen konnte?

      Der Krieg hat sie vertrieben, die Angst, die große Not. Was hiergeblieben ist, um lieber umzukommen als die Heimat zu verlassen; was noch lebt, hat sich in Kellerlöchern vergraben, unter den Trümmern der Häuser eingenistet. Sie wissen nicht, ob sie den nächsten Tag noch sehen werden; sie wissen nicht, wovon sie morgen leben sollen; sie hungern, frieren und bangen.

      Es ist eine gemarterte Stadt.

      Wo sind die Verteidiger von Tscherkassy?

      Sie liegen zwischen geborstenen Mauern, in windgeschützten Ruinenwinkeln, in Löchern und in den zerschossenen Häusern; sie liegen am Rande der Stadt und starren zum Feind hinüber. Und die meisten liegen unter der Erde.

      Der Dnjepr ist die Linie des Todes. Hüben und drüben ist man grimmig entschlossen, alles sich regende Leben zu vernichten. Es ist ein grausames, unerbittliches Hin und Her um diese verfluchte Stadt.

      Die Toten sind ungezählt, die zwischen den Trümmern liegen, im Morast, die erstarrt im Fluss treiben und irgendwo versanden und vergessen werden.

      Tscherkassy, die gemarterte Stadt, wird verbissen verteidigt. Da und dort kichert mit böser Hast ein deutsches Maschinengewehr. Ein Melder läuft geduckt an den zerschossenen Häuserreihen entlang und verschwindet plötzlich spurlos.

      Auf dem Marktplatz, wo die Reste einer Rednertribüne stehen, geschmückt mit verblassten, roten Emblemen, liegen zwei Pferdekadaver, und unweit davon steht das Gerippe eines ausgebrannten Muni-Wagens. An der Ecke des von Maschinengewehrgarben zerfressenen Schulhauses, in dem kein Fenster mehr heil ist, in dem die Türen schief in den Angeln hängen, liegen seit Tagen vier tote Sowjets. Niemand hat Zeit sie zu begraben. Ihre Gesichter sind unkenntlich und erdfarben.

      Am Westende der Stadt, in einem halb zerschossenen Haus, ist ein provisorischer Verbandplatz eingerichtet, wo ein hohlwangiger Arzt mit drei Sanitätssoldaten die schwersten Fälle betreut – diejenigen, die Tscherkassy nicht mehr verlassen werden … Wer verwundet ist und noch laufen oder sich aufrechthalten kann, wird notdürftig versorgt, zurückgeschickt und seinem Schicksal überlassen.

      Erst wenn es dunkel wird, regt sich Leben. Dann rumpeln die Nachschubfahrzeuge in die Stadt, huschen Gestalten hin und her, werden die Verwundeten von den Verteidigungsstellungen zurückgebracht; wenn es dunkel wird, klappern die Kochgeschirre der Hungrigen und hört man ab und zu einen Fluch oder einen Zuruf.

      Das ist dann aber auch die Zeit, die der Gegner nutzt, um Tscherkassy unter stärkeres Artilleriefeuer zu nehmen. Wahllos schießen die Sowjets herüber –; mal da, mal dorthin, auf die Straße, in die Trümmer hinein – tastend, streuend; darauf bedacht, den Verteidigern dieses Ruinenfeldes das Aushalten so schwer wie möglich zu machen.

      Das Grenadier-Regiment unter dem Befehl des Majors Grätz hat sich in diese Stadt verbissen und verteidigt sie mit grimmiger Entschlossenheit. Der Gegner unternimmt alles, um den Widerstand der Deutschen zu zermürben, die Wachsamkeit zum Erlahmen zu bringen, die Trümmer immer und immer wieder von neuem zu beschießen und das Ausharren zu einer Hölle zu machen.

      Das Drama von Stalingrad ist zu Ende gegangen. Stadt um Stadt wurde vom Feind zurückerobert; er wird auch Tscherkassy bekommen, denn er ist stark; dieser Gegner wird immer stärker und kann das in die Schlachten werfen, was die Deutschen nicht mehr oder nur noch in geringer Zahl besitzen: schwere Waffen, Panzer, ausgeruhte Soldaten.

      Im Nordteil der Stadt, wo das alte Ziegelwerk liegt, hat sich der II. Zug der 2. Kompanie eingenistet und sichert gegen Nordosten. Wind und Wetter preisgegeben, ausgemergelt, hungrig und müde geworden, harrt der auf einundzwanzig Mann zusammengeschmolzene Kampfhaufen des Feldwebels Martin Hajek aus.

      Der Zug liegt in der unmittelbaren Nähe des Ziegelwerkes, auf der lehmigen Böschung; er sichert zum Fluss hin ab, dem ein flaches, sumpfiges, mit Stauden und Baumgruppen bewachsenes Gelände vorgelagert ist. Da und dort ragt ein abgeschossener Baumstumpf wie ein Schwurfinger zum Himmel empor. Der Wind weht unablässig kalt und feucht aus Osten und schlägt die starrenden Gesichter wie mit nassen Lappen. Man friert bis in die Seele hinein. Unweit der in einer lehmigen Mulde stehenden Ziegelei, auf dem oberen Böschungsrand, ist ein MG-Stand angelegt, den man von unten her über ins Lehmreich gestochene Stufen erreichen kann.

      In diesem MG-Stand ist der Obergefreite Hermann Klotz auf Posten; er hat den Mantelkragen hochgeklappt und den Stahlhelm tief in die Stirn gezogen. In der Scharte steht das MG auf einem Brett, zugedeckt mit einer schmutzigen, nassen Zeltbahn. Klotz starrt in die Dämmerung, die vor der Stellung dunkle Dunstfahnen vorbeiwandern lässt. Nichts rührt sich. Nur der Ostwind winselt und raschelt im Gras, bewegt ein paar Büsche geradeaus.

      Seine Gedanken sind weit weg – daheim. Bei Elsa. Sie hat einen Brief geschrieben, der gestern angekommen ist. Über zehn Wochen war er unterwegs.

      Elsa schreibt, dass sie den Buben gut zur Welt gebracht habe; acht Pfund und hundertzwanzig Gramm schwer! Ein Prachtexemplar. »Kannst Du nicht Urlaub kriegen, lieber Hermann? Wenn ich wüsste, dass Du kommst, würde ich mit der Taufe warten. Es wäre wunderbar, wenn Du kommen könntest …«

      Ja, denkt Klotz und sucht einen Zigarrenstummel aus der Manteltasche. Ja, wunderbar wäre es, aber wie hier wegkommen? Wie Urlaub kriegen?

      Klotz will den Zigarrenstummel in den Mund stecken, als es nebenan beim I. Zug zu prasseln anfängt. Trr … trr … trrrrrrr

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