Genossen!. Jodi Dean
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In meinem Buch Die Massen und die Partei bezeichne ich den guten Genossen als ein Ideal-Ich, sprich: als das Selbstbild der Parteimitglieder.10 Sie imaginieren sich als mitreißende Redner, brillante Polemiker, versierte Organisatoren oder mutige Kader. Im Unterschied zu diesen Ausführungen geht es mir im vorliegenden Buch darum, dass der Genosse auch als ein Ich-Ideal fungiert: als Blickwinkel, den Parteimitglieder – und oft auch Sympathisanten – sich selbst gegenüber einnehmen. Dieser Blickwinkel ist ein Effekt der Zugehörigkeit zu derselben Seite, die auf jene Menschen zurückwirkt, die sich einem gemeinsamen Kampf verschrieben haben. Der Genosse ist eine symbolische und eine imaginäre Figur, wobei ich mich im Folgenden auf die symbolische Dimension des Ich-Ideals konzentriere.
Mein Nachdenken über den Genossen als allgemeine Chiffre für Menschen, die auf derselben Seite stehen, speist sich aus meinen Arbeiten über den Kommunismus als Horizont linker Politik und über die Partei als dafür notwendige politische Form.11 Wer in unserem politischen Horizont einen kommunistischen Horizont erkennt, betont den emanzipatorisch-egalitären Kampf der Proletarisierten gegen die kapitalistische Ausbeutung – sprich: gegen die Bestimmung des Lebens durch die Kräfte des Marktes, den Wert, die Arbeitsteilung (nach Geschlecht und Hautfarbe), den Imperialismus (den Lenin theoretisch als die Vorherrschaft des Monopol- und Finanzkapitals beschrieb) und den Neokolonialismus (den Nkrumah theoretisch als die letzte Stufe des Imperialismus fasste). Heute erkennen wir diesen Horizont in den Protesten schwarzer Frauen gegen Polizeigewalt, weißen Suprematismus sowie die Tötung und Inhaftierung von Schwarzen, Farbigen und Arbeitern. Wir erkennen ihn in den Infrastrukturkonflikten um Pipelines, Klimagerechtigkeit und nahezu unbewohnbare Städte mit ungenießbarem Trinkwasser und vergifteten Böden. Wir erkennen ihn in den vielfältigen Protesten im Bereich der sozialen Reproduktion gegen Überschuldung und Räumung von Privathaushalten sowie Privatisierung öffentlicher Dienste und für hochwertige, frei zugängliche Angebote im sozialen Wohnungsbau, in Kinderbetreuung und Bildungswesen, im öffentlichen Nahverkehr und Gesundheitswesen sowie in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge. Wir erkennen ihn in dem beharrlichen Kampf der LGBTQ-Gemeinschaft gegen Belästigung, Diskriminierung und Benachteiligung.
Es liegt heute klar auf der Hand, dass der kommunistische Horizont als Horizont politischer Auseinandersetzungen nicht auf nationaler, sondern auf globaler Ebene angesiedelt ist: Er ist ein internationaler Horizont. Das zeigt sich im Antagonismus zwischen den Rechten von Einwanderern oder Geflüchteten und dem verstärkten Nationalismus weltweit, in der Notwendigkeit eines globalen Umgangs mit der Erderwärmung und in den Bewegungen für Antiimperialismus, Entkolonialisierung und Frieden. Diese Beispiele zeigen den Kommunismus als negative Kraft, als Negation der globalen kapitalistischen Gegenwart.
Kommunismus ist aber auch die Bezeichnung für die positive Alternative zur permanenten und raumgreifenden Ausbeutung, Krisenhaftigkeit und Verelendung im Kapitalismus, und für ein Wirtschaftssystem, das auf der Befriedigung sozialer Bedürfnisse fußt – nach Marx’ berühmter Formel: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!12 – und in dem der Weg zu diesem Ziel kollektiv durch die Produzenten bestimmt und beschritten wird. Diese positive Dimension des Kommunismus erstreckt sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf den Umgang der Menschen miteinander, mit Tieren, mit Sachen und mit ihrer Umwelt. Widerstand und Unruhen genügen für den Aufbau des Kommunismus nicht; dieser erfordert die emanzipiert-egalitäre Organisation des menschlichen Lebens.
Was die Partei anbelangt, so sind die zeitgenössischen linken Intellektuellen darum bemüht, die Partei von den Bestrebungen und Errungenschaften zu isolieren, die sie überhaupt erst ermöglicht hat. Kommunistische Philosophen wie etwa Antonio Negri und Alain Badiou, die sich in einer Menge theoretischer Fragen nicht einig sind, kommen in der Organisationsfrage auf einen Nenner: keine Partei! Abgelehnt wird die Partei, weil sie autoritär und altmodisch sei und nicht zur Netzwerkgesellschaft passe. Jede Art der politischen Vereinigung könne überholt, erneuert oder anders konzipiert werden, außer der Partei der Kommunisten.
Die Ablehnung der Partei als Form linker Politik ist ein Fehler. Sie ignoriert die Assoziationseffekte auf die Menschen, die einen gemeinsamen Kampf führen. Sie missachtet die Lehren aus der Alltagserfahrung ganzer Generationen von Aktivisten, Organisatoren und Revolutionären. Sie fußt auf einem verengten, eingebildeten Begriff der Partei als totalitärer Maschine. Sie übergeht den Mut und Enthusiasmus, die Errungenschaften von Millionen Parteimitgliedern im Verlauf von mehr als hundert Jahren. Die Ablehnung der Parteiform zählte die letzten dreißig Jahre lang zur linken Dogmatik und hat uns kein Stück weitergebracht.
Zum Glück haben die Platzbesetzungen in Griechenland und Spanien wie auch die Lehren aus den Erfolgen und Grenzen der Occupy-Bewegung diese linke Dogmatik erschüttert. Sie haben das Interesse an der Partei als wandelbare politische Form neu belebt, die flexibel, anpassungsfähig und raumgreifend genug ist, um über die fröhlichen und aufrüttelnden Massenmomente auf den Straßen hinaus Bestand zu haben. Eine Theorie der Genossen kann zu dieser erneuerten Sichtweise beitragen, indem sie umreißt, wie die über-individuelle Verpflichtung auf einen gemeinsamen Kampf neue Stärken und neue Fähigkeiten hervorbringt. Im Gegensatz zur Reduktion innerparteilicher Beziehungen auf ein Verhältnis zwischen Führung und Geführten erfasst das Konzept »Genosse« die Effekte politischer Zugehörigkeit auf Menschen, die in einem politischen Kampf auf derselben Seite stehen. Wenn wir gemeinsam für eine von Ausbeutung, Unterdrückung und Vorurteilen freie Welt kämpfen, müssen wir uns vertrauen und aufeinander verlassen können. Das Prinzip Genosse benennt dieses Verhältnis.13
Die Beziehung zwischen Genossen bildet einen neuen Bezugspunkt für die Erkenntnis des Erkennbaren und für das Erahnen neuer Möglichkeiten. Sie bietet Gelegenheit für eine Neubewertung der Energie und Zeit, die man aufbringt – und für wen man sie aufbringt: Dient die eigene Arbeit den Menschen oder den Bossen? Basiert sie auf Freiwilligkeit oder auf einem Zwang zur Arbeit? Zielt man auf persönlichen Vorteil oder auf gesellschaftlichen Nutzen? Erinnern wir uns Marxens poetischer Beschreibung des Kommunismus, wo Arbeit »das erste Lebensbedürfnis« wird.14 Das Konzept der Genossen bietet uns eine Ahnung davon: Man will politische Arbeit machen. Man will seine Genossen nicht hängenlassen, man sieht den Wert der eigenen Arbeit durch ihre Augen, durch neue kollektive Augen. Diejenige Arbeit ist Erfüllung, die nicht durch Märkte, sondern durch ein gemeinsames Versprechen bedingt ist. Der französische kommunistische Philosoph und Aktivist Bernard Aspe begreift das Problem des zeitgenössischen Kapitalismus als Verlust »gemeinsamer Zeit« (temps commun), also einer Zeiterfahrung, die durch unser kollektives Zusammensein erzeugt und erlebt wird.15 Vom Urlaub über die Mahlzeiten bis hin zu den Pausen, unsere gesamte gemeinsame Zeit ist eingehegt in Formen kapitalistischer Aneignung. Die Apps und Tracker des kommunikativen Kapitalismus verstärken diesen Prozess derart, dass die Konsumptionszeit heute beinahe ebenso umfassend gemessen werden kann wie die Produktionszeit im Taylorismus: Wie lang verbleibt ein Besucher auf der Website? Hat eine Person den gesamten Werbespot gesehen oder ihn nach fünf Sekunden weggeklickt? Dagegen mündet kollektives Handeln, sprich die Wirklichkeit und Aktualität kommunistischer Bewegung, in ein kollektives Empowerment. Die Disziplin des gemeinsamen Kampfes – also nichts weniger als der Bruch mit dem kapitalistischen Leitbild, rund um die Uhr für die Bosse und Eigentümer zu produzieren und zu konsumieren – erweitert den Aktionsrahmen und verstärkt das Bewusstsein für ihre Notwendigkeit. Der Genosse ist eine Chiffre für