Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser

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Kritik der Ungleichheit - Frederick  Neuhouser Blaue Reihe

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Trend zu tun.) Die am leichtesten auszumachende Form sozialer Ungleichheit ist die ökonomische, und wir verfügen über zahlreiche empirische Belege für die Behauptung, dass nicht nur in den sich entwickelnden Ländern, sondern auch in den reichsten und technisch fortgeschrittensten – ein besonders schockierendes Beispiel dafür sind die USA – die Ungleichheit größer ist, als sie zu jedem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Vergangenheit war, und dass die Kluft zwischen Arm und Reich stetig zunimmt, sofern die von ihr Benachteiligten sich politisch nicht massiv dagegen zur Wehr setzen. Statistiken, die dies belegen, sind ohne weiteres zu finden: 2007 besaß ein Prozent der Bevölkerung über ein Drittel des Gesamtvermögens in den USA. Zwischen 2002 und 2007 lagen 65 Prozent des gesamten nationalen Einkommens in den Händen derer, die bereits zu dem einen Prozent der Reichsten gehörten, und 2010 verdiente der durchschnittliche Vorstandsvorsitzende 243 Mal so viel wie der normale Arbeitnehmer.1

      Man könnte noch viele Statistiken anführen, um zu zeigen, dass die ökonomische Ungleichheit fast überall auf der Welt katastrophale Ausmaße angenommen hat, doch solche Tatsachen stumpfen schnell unsere Empfänglichkeit für ein Phänomen ab, das so offensichtlich geworden ist, dass praktisch jeder, der Augen hat und über eine minimale Fähigkeit verfügt, die soziale Wirklichkeit wahrzunehmen, darin einen Grund sehen muss, alarmiert zu sein. Im Allgemeinen fällt es nicht in die Domäne der Philosophie, empirische Daten zu erzeugen oder bestimmte ökonomische Trends von der gerade genannten Art zu erklären. Wohl aber kann die Philosophie zu verstehen suchen, warum die Ungleichheit, ganz allgemein, ein so allgegenwärtiges Merkmal der Gesellschaften ist, in denen wir leben, und dann untersuchen, wann – und warum – soziale Ungleichheiten moralisch verwerflich sind und zu einem berechtigten Gegenstand der Gesellschaftskritik werden. Genau das unternimmt Rousseau im Zweiten Diskurs, und dieses Buch will zeigen, dass seine Antworten auf die beiden Fragenkomplexe noch heute überzeugend sind. Keine zeitgenössische Behandlung der Ungleichheit kann es sich meiner Meinung nach leisten, die Erklärung und Kritik eben dieses Phänomens zu übergehen, wie Rousseau sie vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten geleistet hat. Obgleich das soziale Leben im Westen sich seitdem in vielerlei Hinsicht verändert hat, trifft das nicht auf alles zu, und wir würden uns törichterweise der Vorzüge unseres reichen philosophischen Erbes berauben, wenn wir uns auf den für uns schmeichelhaften Standpunkt stellten, unsere Vorfahren könnten uns nichts über die Probleme lehren, mit denen sich heutige Gesellschaften herumschlagen müssen.

      Rousseaus Zweiter Diskurs handelt, wie schon sein Titel sagt, vom Ursprung und von den Grundlagen der menschlichen Ungleichheit – wobei, wie unten deutlich werden wird, sich der letzte Ausdruck auf den normativen Rang der Ungleichheit bezieht. Die doppelte Stoßrichtung der Rousseau’schen Schrift kommt in den beiden von der Akademie zu Dijon aufgeworfenen Fragen zum Ausdruck. Das Thema des ausgeschriebenen Wettbewerbs, für den der Zweite Diskurs verfasst wurde, lautete nämlich: Was ist der Ursprung der menschlichen Ungleichheit und ist sie vom natürlichen Gesetz autorisiert bzw. hat sie ihre Grundlagen in diesem? (DU, 65 / OC III, 129).2

      Die Annahme, unser erster Zugriff auf die Bedeutung dieser Fragen ziele bereits ins Schwarze von Rousseaus Auffassung, ist das größte Hindernis, um das Argument des Zweiten Diskurses zu verstehen. Tatsächlich stellen sich seine beiden Hauptideen – jene über den »Ursprung« und darüber, was »vom natürlichen Gesetz autorisiert ist« – als sehr viel vertrackter und eigenwilliger heraus, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und daher wird ein Großteil der auf den folgenden Seiten unternommenen Interpretationsarbeit aufzuspüren suchen, wie diese Ideen im Zweiten Diskurs aufzufassen sind.

      Freilich sind viele Leser, auch ohne in die Interpretationsarbeit eingestiegen zu sein, in der Lage, einen Eindruck von einem der philosophisch höchst erstaunlichen Aspekte des Zweiten Diskurses zu gewinnen: seiner nicht weiter erklärten Voraussetzung, dass diese beiden Untersuchungen eng miteinander verbunden sind – das heißt, die anscheinend deskriptiven oder erklärenden Behauptungen über den Ursprung der Ungleichheit hängen mit den eindeutig normativen Behauptungen über die Legitimität und Rechtfertigung von Gleichheit zusammen (damit, ob sie vom natürlichen Gesetz »autorisiert« ist oder ihre »Grundlagen« darin hat). Für den zeitgenössischen Leser kann die Verbindung dieser zwei Fragen nur auf einer fatalen Vermischung von normativen und nichtnormativen Sachverhalten zu beruhen scheinen: Warum sollte eine Aussage über die Herkunft von etwas darüber befinden, ob es in irgendeiner Weise gut, moralisch erlaubt oder wertvoll ist? Sowohl die Philosophie als auch der gesunde Menschenverstand bestehen normalerweise auf der logischen Unabhängigkeit dieser Fragen, so dass zum Beispiel die (faktische) Frage, unter welchen historischen Umständen das Wahlmännerkollegium in den USA eingesetzt worden ist, weitgehend irrelevant für die (normative) Frage ist, ob wir es heute für ein gutes Verfahren zur Wahl des US-Präsidenten halten und darin eine Institution sehen, an der sich festzuhalten lohnt. Aus diesem Grund muss eine Rekonstruktion des Zweiten Diskurses es zu einer Hauptsache machen, kohärent zu erklären, warum diese Fragen so miteinander verbunden sind, wie Rousseau es anscheinend glaubt. Ein Kriterium für den Erfolg einer solchen Rekonstruktion muss dann sein, ob der Sinn, den sie den beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses verleiht, deren angebliches Miteinanderverbundensein verständlich werden lässt.

      Oder, um es etwas anders zu formulieren: Nach Rousseaus Auffassung liefert der Zweite Diskurs eine Art Genealogie der menschlichen Ungleichheit, die unauflöslich mit dem Projekt der Bewertung – oder genauer der Kritik – eben jenes Phänomens verbunden ist, dessen Ursprünge seine Genealogie sich zu erhellen unterfängt.3 In dieser Hinsicht lässt sich der Zweite Diskurs als Gründungsschrift einer langen Tradition in der neuzeitlichen europäischen Philosophie betrachten, die eine Spielart des Projekts Genealogie für wesentlich hält, um den Gegenstand der genealogischen Untersuchung normativ zu bewerten. Um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Auf den Einleitungsseiten der Genealogie der Moral umreißt Nietzsche die Aufgabe, die er sich gesetzt hat, mit zwei Fragen, deren Ähnlichkeit zu den Rousseau’schen unverkennbar ist: »[U]nter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturtheile gut und böse? und welchen Werth haben sie selbst4 Rousseau hat, wie sich zeigen wird, seine eigene spezifische Auffassung davon, was es heißt, eine Genealogie für etwas so zu liefern, dass die Aufdeckung von dessen Ursprüngen für die Beurteilung seines Werts wesentlich ist. Auch wenn Rousseaus Vorstellung davon, was es bedeutet, nach den Ursprüngen eines sozialen Phänomens, etwa der Ungleichheit unter den Menschen, zu suchen – als etwas, was von rein natürlichen Dingen oder Vorgängen verschieden ist –, sich substantiell von solchen der auf ihn folgenden philosophischen Genealogen unterscheidet, ist es von größter Wichtigkeit herauszufinden, wie Rousseau die beiden zentralen Fragen des Zweiten Diskurses verknüpft, und das nicht nur, um seine eigenen, in sich wertvollen Ansichten über die Rechtmäßigkeit von Ungleichheit zu begreifen, sondern auch um zu verstehen, wie spätere Philosophen ähnlich konzipierte Genealogien in Angriff genommen haben. Diese beiden Fragen zu beantworten und zu formulieren, was sie verbindet, ist daher die oberste Aufgabe, die ich auf den folgenden Seiten angehen möchte.

      Sobald man feststellt, dass die Suche nach dem Ursprung von Gleichheit für Rousseau auf die Frage hinausläuft, ob die Ungleichheit der Natur entspringt, haben wir einen Schritt hin zu dem Verständnis gemacht, wie diese beiden Fragen verknüpft sind. Diese Erkenntnis hilft uns, dem Doppelcharakter des Projekts im Zweiten Diskurs einen ersten Sinn zu verleihen, denn Natur hat, sogar für uns, häufig eine normative Konnotation. Wenn wir etwa sagen: »Es ist natürlich, dass Menschen sich mehr um ihr eigenes Wohlergehen als um das ihnen Fernstehender kümmern«, wollen wir typischerweise nicht nur eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Menschen (wie sie aufgrund ihrer Natur sind) treffen, sondern ein solches Verhalten, und sei es nur implizit, auch als gerechtfertigt oder annehmbar billigen, eben weil es »natürlich« ist und weil wir übermäßig anspruchsvolle Forderungen an die Menschen richteten, würden wir, wo sie doch von Natur aus diese Art von Geschöpfen sind, ein anderes Verhalten von ihnen erwarten. Zu sagen: »Es ist für Menschen natürlich, sich am meisten um ihr eigenes Wohlergehen zu kümmern«, schließt normalerweise die Aussage ein: »Dass sie es tun, ist (größtenteils) okay, gerechtfertigt, vollkommen in Ordnung«. Wir sollten zudem daran denken, dass diese Neigung,

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