Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser
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So gesehen würde die zweite Antwort den Ursprung der Ungleichheit ebenfalls in der Natur, so wie Rousseau diesen Begriff versteht, verorten. Die Mehrzahl derer, die diesen Weg einschlagen, werden jedoch vermutlich noch einen Schritt weiter gehen – nämlich in Richtung auf den ›luck egalitarianism‹ – und noch ein weiteres, nicht-natürliches Element einführen, um zu erklären, warum einige Individuen ihre natürlichen Gaben mehr als andere entwickeln und ausüben. Dieses zusätzliche Element ist die individuelle ›Anstrengung‹, die für gewöhnlich als eine Wirkung des freien Willens der Individuen begriffen wird, und aus diesem Grund geht das neue Element in der Erklärung von Ungleichheit über den Bereich des rein Natürlichen hinaus. (In den folgenden Kapiteln wird deutlich werden, dass Rousseau diese scharfe Trennung zwischen natürlichen Phänomenen und solchen, die vom freien Willen abhängen, anerkennt, ohne sich aber dabei auf das Verdienst als Quelle legitimer Ungleichheiten zu beziehen.) Nach dieser höchst differenzierten Ansicht des gesundes Menschenverstands ist die Allgegenwart sozialer Ungleichheit weitgehend natürlichen, der menschlichen Kontrolle sich entziehenden Faktoren geschuldet – ungleichen Begabungen, natürlichem Eigeninteresse und Güterknappheit –, wo aber genau einzelne Individuen sich am Ende im bestehenden System von Ungleichheit wiederfinden und wie groß die Disparitäten ausfallen, das hängt auch davon ab, was Individuen mit ihren natürlichen Gaben anfangen, wobei ihr Handeln das Ergebnis ihrer freien Wahl ist und damit nicht bloß eine natürliche Ursache der Ungleichheit.
Man sieht leicht, wie diese Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit, vor allem durch ihre Einführung der Freiheit, so ausgelegt werden kann, dass sie Folgen für das zweite Hauptanliegen des Zweiten Diskurses hat: ob und, wenn ja, bis zu welchem Grad ist Ungleichheit gerechtfertigt. Insofern von der Ungleichheit geglaubt wird, sie habe ihren Ursprung ganz und gar in natürlichen Faktoren – in einer Verbindung von angeborenem Konkurrenzverhalten, natürlichem Eigeninteresse, ungleichen Begabungen und Güterknappheit –, scheinen die meisten (obgleich nicht notwendig alle) der beträchtlichen, für moderne Gesellschaften charakteristischen Ungleichheiten nur dann vermeidbar oder auflösbar zu sein, wenn extreme Maßnahmen ergriffen werden, Maßnahmen, die der Natur unweigerlich Zwang antun. (So gesehen scheint beispielsweise das sozialistische Ziel der Aufhebung aller ökonomischen Klassenunterschiede utopisch zu sein, die Natur zu unterdrücken und ihr zuwiderzulaufen.) Individuelle Anstrengung ins Spiel zu bringen kann jedoch auch dazu dienen, bestehende Ungleichheiten zu rechtfertigen: Welchen Platz wir am Ende in der sozialen Hierarchie einnehmen, hängt auch von der Ausübung unserer Freiheit ab, und daher werden einige Vorteile als verdient oder rechtmäßig erworben erscheinen und folglich als legitim. (Im 4. Kapitel werde ich zeigen, dass Rousseaus Kritik der sozialen Ungleichheiten nichts mit der These zu tun hat, bessergestellte Mitglieder der Gesellschaft verdienten ihre vorteilhafte Stellung nicht.) Um festzustellen, welche Ungleichheiten gerechtfertigt sind, muss man sich nicht auf die hoffnungslose – und moralistische – Aufgabe einlassen herauszufinden, welches Individuum was verdient.
Es sieht so aus, als erwarte Rousseau von seinen Lesern, an den Zweiten Diskurs mit der stillschweigenden oder ausdrücklichen Befürwortung einer Variante dieser Commonsense-Auffassung heranzutreten, nach der die allgegenwärtige Ungleichheit grundlegend für die Beschaffenheit des Menschen ist – ein notwendiges Ergebnis sowohl der menschlichen als auch der allgemeineren Natur – und die die meisten bestehenden Ungleichheiten als legitim oder zumindest als moralisch nicht verwerflich betrachtet. Wenn dem so ist, bezweckt Rousseau, seine Leser von der weitgehenden Falschheit dieser Commonsense-Auffassung zu überzeugen. Stattdessen wird er behaupten, Ungleichheit entspringe nicht der Natur– oder, um es genauer zu sagen, der Beitrag der Natur zur Ungleichheit sei so gering, dass man ihn ruhig vernachlässigen dürfe. Das bedeutet für Rousseau, die weitverbreitete Ungleichheit ist keine notwendige, unabänderliche Eigenschaft menschlicher Gesellschaft und lässt sich daher nicht bloß durch die Berufung auf die Beschaffenheit der Menschen und der Welt rechtfertigen, womit auch die Implikation hinfällig ist, jeder Versuch, die Ungleichheit abzuschaffen oder zu verringern, stelle eine Vergewaltigung der Natur dar. Die Behauptung, Ungleichheit entspringe nicht der Natur, beinhaltet zudem, dass sie stattdessen – auf eine noch zu erklärende, verwickelte Weise – der menschlichen Freiheit entstammt, die sich von der Natur dadurch unterscheidet, dass sie eine unberechenbare Quelle des Neuen und Zufälligen ist. Wenn aber, so Rousseaus Überlegung, die Ungleichheit tatsächlich ein zufälliges Phänomen ist, das durch den Menschen in die Welt kommt – wenn ihr dauerhaftes Vorliegen auf uns zurückgeht (in unsere Verantwortung fällt) –, dann wächst der Frage, ob es sie geben sollte (ob sie gut oder zu rechtfertigen ist), eine neue Bedeutung oder Brisanz zu, die sie nicht hat, wenn sich am Ende sehr wenig machen lässt, um daran etwas zu ändern. Anders gesagt: Zu begründen, dass Ungleichheit nicht den Rang des Natürlichen hat, läuft für Rousseau darauf hinaus, sie aus dem Bereich dessen, was ist – was notwendig ist und was daher lediglich akzeptiert werden muss –, in den Bereich des Normativen zu rücken, wo sie ein möglicher Gegenstand der Bewertung und Kritik wird. Zugleich ist unbedingt festzuhalten, dass sich die normative Frage nach Rousseaus Ansicht nicht von selbst beantwortet, indem die Ungleichheit einfach als von Menschen gemacht betrachtet wird. Beispielsweise ist damit nicht gesagt, dass Menschen, als Urheber der sozialen Hierarchie, ihre Stellung darin verdienen, und ebenso wenig beinhaltet die bloße Künstlichkeit der Ungleichheit – der Umstand, dass sie Ergebnis menschlicher Tätigkeit ist – schon ihre Unrechtmäßigkeit. Wie wir unten ausführlicher sehen werden, fällt Rousseaus Antwort auf die normative Frage unerwartet subtil aus und verwirft nicht alle kontingenten und künstlichen Ungleichheiten in Bausch und Bogen als unrechtmäßig. Letztlich entspringt seine Antwort einer weitreichenden Vorstellung davon, was für die sozialen Einrichtungen gezeigt werden muss, um ihre Rechtmäßigkeit oder moralische Fundierung zu begründen, einer Vorstellung, die ihre normativen Kriterien nicht bei der reinen Natur sucht, sondern in der Freiheit – wenngleich nicht im Verdienst.
Meine Darlegung des Rousseau’schen Gedankengangs im Zweiten Diskurs wird folgendermaßen aufgebaut sein: Im 1. Kapitel rekonstruiere ich Rousseaus negative These, dass Ungleichheit – bzw. die ihn am meisten interessierende Art von Ungleichheit