Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Kritik der Ungleichheit - Frederick Neuhouser страница 8

Kritik der Ungleichheit - Frederick  Neuhouser Blaue Reihe

Скачать книгу

normativer Kritik entrückt sind. Die bloße Tatsache, dass jemand blind geboren ist, während andere mit perfektem Sehsinn auf die Welt kommen, ist für Rousseau keine Form der Ungerechtigkeit oder irgendeine andere Art moralischen Gebrechens. Wie dieser natürliche Unterschied aber letzten Endes das Leben der Betroffenen beeinträchtigt, ist nicht bloß eine Folge der natürlichen Umstände. Da soziale Praktiken und Institutionen beträchtlich zur Ausgestaltung der Folgen beitragen, die natürliche Ungleichheiten für das Leben der von ihnen Benachteiligten haben, gehen diese Folgen in nicht geringem Maße auf unser eigenes Handeln zurück – wir und nicht die Natur sind für sie verantwortlich – und daher sind sie ein angemessenes Thema für die normative Frage des Zweiten Diskurses. Natürliche Blindheit ist nicht an sich eine Ungerechtigkeit, doch der Umstand, dass Blinde in einigen Gesellschaften kaum Zugang zu Bildungseinrichtungen oder öffentlichen Verkehrsmitteln haben, kann in der Tat ungerecht (und ein legitimer Gegenstand der Kritik) sein, denn dabei handelt es sich um soziale, nicht bloß natürliche Folgen von Blindheit, und die zu ändern, steht in unserer Macht.

      Damit ist ein weiterer Grund genannt, warum der Zweite Diskurs sich ausschließlich mit sozialen Ungleichheiten beschäftigt: Es gehört zu Rousseaus grundlegenden Überzeugungen – für die der Zweite Diskurs eine Art Argument zu liefern beabsichtigt –, dass natürliche Ungleichheiten, obgleich sie real und von einiger Bedeutung sind, sich, verglichen mit den ungleich gravierenderen Wirkungen künstlicher Ungleichheiten, in den menschlichen Angelegenheiten kaum niederschlagen. Wenn ein Beobachter der modernen Gesellschaft sich aus Betroffenheit wegen der ihn umgebenden Ungleichheiten beschließt, den Ursprung und die Rechtfertigung der Ungleichheit zu untersuchen, dann sind die Phänomene, die ihn sehr wahrscheinlich zu seiner Untersuchung anregen, weitaus mehr das Ergebnis sozialer als natürlicher Umstände. Wie Rousseau schon ganz am Anfang des Zweiten Diskurses zeigt, sieht man, sobald man über die Sache nachdenkt, ganz schnell, dass die großen, in modernen Gesellschaften so augenfälligen Diskrepanzen in Macht, Reichtum, Ansehen und Autorität nicht unmittelbare Folgen von Unterschieden in Alter, Körperkraft, angeborener Begabung oder natürlicher Intelligenz sind. Dass Reichtum, Ansehen, Macht und Autorität schlicht die natürliche Überlegenheit derjenigen spiegeln, die darüber verfügen, »taugt vielleicht dazu, um unter Sklaven, wenn ihre Herren zuhören, verhandelt zu werden«, für diejenigen aber, die nach der Wahrheit über die Ungleichheit zwischen den Menschen suchen, hat eine solche Hypothese wenig Überzeugungskraft (DU, 77/69, OC III, 132). Dass soziale Ungleichheiten sich nicht einfach auf natürliche Unterschiede zurückführen lassen, stellt selbstverständlich keinen Beweis ihrer Illegitimität dar. Es beinhaltet jedoch, dass die meisten Ungleichheiten, auf die wir in bestehenden Gesellschaften stoßen, nicht bloß vorgegebene, natürliche oder notwendige Phänomene sind, sondern stattdessen zumindest teilweise den sozialen Umständen geschuldet sind, die Menschen aktiv aufrechterhalten und für die sie aus diesem Grund verantwortlich sind; oder anders gesagt, es zeigt nicht, dass soziale Ungleichheiten samt und sonders illegitim sind, allerdings sind sie, bescheidener ausgedrückt, ein geeigneter Gegenstand für eine moralische Bewertung und Kritik.

      Mit diesen Überlegungen ist bereits ein Anfang in der Rekonstruktion von Rousseaus Antwort auf die erste Frage des Zweiten Diskurses gemacht: Woher kommen die sozialen Ungleichheiten? Denn der erste Schritt in seiner Argumentation, dass sie nicht natürlichen Ursprungs sind, besteht in genau dieser These: Die weit verbreitete Existenz sozialer Ungleichheiten lässt sich nicht als eine unmittelbare oder notwendige Folge natürlicher Ungleichheiten erklären; und dementsprechend fallen natürliche Ungleichheiten so gut wie nicht ins Gewicht, wenn es um die Festlegung geht, welche Individuen in einer bestimmten Gesellschaft in den Genuss der Vorteile von Reichtum, Ansehen, Macht und Autorität gelangen. Mit anderen Worten: Angeborene Unterschiede zwischen den Menschen beinhalten – Aristoteles und Platon zum Trotz – nicht die Notwendigkeit oder Rechtmäßigkeit sozialer Hierarchien im Allgemeinen, noch ermächtigen sie die Zuschreibung von Vorteilen, da sie »in Übereinstimmung mit der Natur« sind. Zudem beharrt Rousseau darauf, dass, selbst wenn sich herausstellte, dass natürliche Ungleichheiten eine gewisse Funktion bei der Bestimmung der relativen Stellungen von Individuen in der Gesellschaft einnehmen, sie es nicht an sich tun würden, unabhängig von einem Schwarm sozialer Praktiken und Institutionen – beispielsweise Eigentumsgesetze, Ehrenkodizes oder Konventionen über die Einsetzung der Obrigkeit –, die natürlichen Unterschieden eine Bedeutung verleihen und sie auf eine Weise kultivieren, dass ihre Folgen weit über die hinaus gehen, die sie »natürlicherweise«, ohne solche Praktiken und Institutionen, gehabt hätten. Da die Praktiken und Institutionen, die als Mittler für die Auswirkung der natürlichen Ungleichheiten auf die gesellschaftliche Stellung auftreten, veränderlich sind und von der menschlichen Freiheit abhängen, sind soziale Ungleichheiten von der Natur allenfalls unterbestimmt. Welche Formen von Ungleichheit in einer bestimmten Gesellschaften herrschen und wie weit sie sich erstrecken, das ist keine Sache natürlicher (und somit ewiger) Tatsachen, sondern eine der sozialen (und somit veränderlichen) Umstände, die, weil menschliches Zutun sie konserviert, in unser Hand liegen und so ein möglicher Gegenstand sowohl der Bewertung als auch der Reform sind.

      An Rousseaus Zurückweisung der Natur als Ursprung sozialer Ungleichheiten ist jedoch noch mehr dran, und zu erkennen, worin dieses Mehr besteht, enthüllt viel über das Wesen des genealogischen Unterfangens im Zweiten Diskurs und seines zentralen Begriffs ›Ursprung‹. Unmittelbar im Anschluss an seine Feststellung, soziale Ungleichheiten ließen sich nicht auf natürliche Ungleichheiten zurückführen, wirft Rousseau eine weitere Frage bezüglich ihres Ursprungs in der Natur auf, ein sicherer Hinweis darauf, dass seine erste Behauptung seine These, soziale Ungleichheiten seien nicht-natürlichen Ursprungs, nicht erschöpft. Diese weitere Frage lautet, ob soziale Ungleichheiten nicht ihren Ursprung, oder wie Rousseau manchmal sagt, ihre Quelle (DU, 63/43, OC III, 122), in der Natur des Menschen haben. Ein Grund dafür, die Rede von der Quelle der Ungleichheit der über ihren Ursprung vorzuziehen, liegt darin, dass der erste Ausdruck den üblichen, aber irregeleiteten Eindruck abwehrt, Rousseau beabsichtige, eine in erster Linie historische Frage darüber zu stellen, wie die Ungleichheit tatsächlich in die Welt kam. Formuliert man seine Frage so, dass von der Quelle der Ungleichheit gesprochen wird, dann verspricht der Zweite Diskurs das Woher der Ungleichheit viel allgemeiner zu untersuchen, als eine rein historische Darlegung es tun könnte. Fragt man zum Beispiel nach der Quelle des Hudson oder der Quelle der Armut in den USA, dann erwartet man normalerweise nicht, eine historische Erzählung präsentiert zu bekommen, wohl aber im ersten Fall eine synchrone Darstellung der verschiedenen Nebenflüsse, deren Wasser gemeinsam den Hudson bilden, und im zweiten Fall eine Auflistung von verschiedenen Faktoren – Verlegung von Jobs in Länder mit billigerer Arbeitskraft, Gesetze, welche die Bildung von Gewerkschaften erschweren usw. Diese sollen freilich nicht erklären, wie die Armut in den USA anfänglich entstanden ist, sondern welche bestehenden Kräfte zu ihrer Fortdauer beitragen. Tatsächlich hat Rousseau diese Art von Darlegung im Blick, wenn er den Ursprung der Ungleichheit untersucht. Statt zu fragen wann, wo und warum die soziale Ungleichheit zuerst in der menschlichen Gesellschaft aufgetreten ist, möchte er wissen, welche der verschiedenen Aspekte der menschlichen Daseinsbedingungen im Allgemeinen – unsere biologische Natur, eine erworbene psychische Verfasstheit, Geschichte, zufällige soziale Umstände – zusammenwirken, um zu erklären, warum es Ungleichheit gibt und warum sie in den meisten menschlichen Gesellschaften so weit verbreitet ist.

      Nachdem er festgestellt hat, dass angeborene Unterschiede unter den Individuen wenig, wenn überhaupt zu den sozialen Ungleichheiten beitragen, ist es Rousseaus nächstes Anliegen, sehr viel detaillierter zu zeigen, dass sie ihre Quelle auch nicht in der Natur des Menschen oder der allgemeiner begriffenen Natur haben. Bereits im Vorwort, noch bevor er die Fragen, die anzugehen er vorhat, richtig definiert hat, macht Rousseau deutlich, dass es für das Gelingen des Zweiten Diskurses entscheidend ist, eine präzise Vorstellung von der menschlichen Natur zu entwickeln: »Denn wie soll man die Quelle der Ungleichheit unter den Menschen kennen, wenn man nicht zuvor die Menschen selbst kennt?« (DU, 63/43, OC III, 122). Obwohl es von Anfang an recht offensichtlich ist, dass er die soziale Ungleichheit nicht als Folge der Natur des Menschen zu erklären beabsichtigt, ist es weniger deutlich, worauf seine Position hinausläuft. Da Rousseaus Antwort auf die Frage, ob die soziale Ungleichheit ihre Quelle in der Natur

Скачать книгу