Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser

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Kritik der Ungleichheit - Frederick  Neuhouser Blaue Reihe

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formulierte, legte er ihnen genau die oben erwähnte Doppelbedeutung bei: Sie beschreiben, wie Menschen zu handeln geneigt sind (und im Allgemeinen handeln), und gleichzeitig billigen sie dieses ›natürliche‹ Verhalten als gut.5 Ähnlich ist Adam Smiths These, die »kommerzielle Gesellschaft« (der Kapitalismus) sei natürlich, logisch untrennbar von seinem Urteil, sie sei, angesichts ihrer Natur, ein geeignetes Wirtschaftssystem für die Menschen.6 Selbstverständlich erklärt oder rechtfertigt die bloße Nennung dieser Beispiele noch nicht die in ihnen enthaltene Mischung von deskriptiven (oder erklärenden) und normativen Elementen – zu Rousseaus Verwendung von ›Natur‹ bleibt auf den folgenden Seiten noch sehr viel zu sagen –, doch könnte es helfen, die anfängliche Irritation zu verringern, die sich aus der angenommenen Verbindung der beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses unweigerlich ergibt.

      Wie ich oben angedeutet habe, ist ›Natur‹ nicht der einzige zentrale Begriff im Zweiten Diskurses, welcher der Klärung bedarf. ›Ursprung‹ ist ebenfalls ein potentiell irreführender Ausdruck, und zu verstehen, was Rousseau bezweckt, wenn er den Ursprung von Ungleichheit untersucht, ist wesentlich für die Einschätzung der Kraft und Relevanz seines Arguments. Das landläufigste Missverständnis wird durch Rousseaus eigene Beschreibung seiner Schrift als Genealogie befeuert, so wie auch durch das von mir oben angeführte Beispiel – das Wahlmännerkollegium in den USA. Ich wollte damit den Blick auf den irritierenden Charakter der angenommenen Verbindung zwischen den erklärenden und normativen Anstrengungen des Zweiten Diskurses lenken. Wenn wir normalerweise eine Genealogie erstellen, um den Ursprung von etwas zu erklären, glauben wir damit, eine kausale, historische Erklärung für eine Abfolge realer Ereignisse zu liefern, die zur ›Geburt‹ – zur Entstehung – des fraglichen Phänomens geführt haben. Das ist jedoch nicht das, worauf Rousseau abzielt, wenn er den Ursprung menschlicher Ungleichheit untersucht – auch wenn er manchmal so redet, als würde er es tun (DU, 81, 236 ff., OC III, 133, 191 f.). Was manch einen Leser verständlicherweise verwirrt. Vor allem aber fragt er nicht danach, wie ein einzelnes Phänomen (zum Beispiel das Wahlmännerkollegium in den USA) an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit (in Philadelphia 1787) entstanden ist. Stattdessen geht seine Untersuchung von einer allgemeinen Beobachtung über die Allgegenwärtigkeit von Ungleichheit in verschiedenen menschlichen Gesellschaften aus – von denen er entweder aufgrund eigener Erfahrung wusste oder aus den Berichten von Reisenden, den Darstellungen der Historiker usw. – und fragt dann weiter nicht danach, wie es tatsächlich zur Ungleichheit gekommen ist, sondern, warum sie, sobald sie einmal existiert, so beharrlich und so verbreitet ist. Mit anderen Worten lässt sich die Frage, die Rousseaus Untersuchung über den Ursprung der Ungleichheit zugrunde liegt, wie folgt formulieren: Was erklärt die erstaunliche Tatsache, dass nahezu alle uns bekannten menschlichen Gesellschaften sich durch erhebliche Ungleichheiten hinsichtlich des Reichtums, der Macht und des Ansehens ihrer Mitglieder auszeichnen? Welche Kräfte müssen – nicht nur zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, sondern allgemeiner – am Werk sein, wenn Ungleichheit so verbreitet ist, dass sie ein dauerhaftes Merkmal der conditio humana zu sein scheint?7 In den folgenden Kapiteln wird noch viel über die Art von genealogischer Erklärung zu reden sein, die der Zweite Diskurs zu konstruieren sich anschickt. Im Augenblick genügt es festzuhalten, dass er nicht bezweckt, den Ursprung der Ungleichheit in einem streng historischen Sinn des Wortes zu erklären. Wie wir unten sehen werden, muss die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit nicht als die Suche danach interpretiert werden, wie dieser oder jener besondere Fall von Ungleichheit faktisch zustande gekommen ist.

      Das Doppelprojekt des Zweiten Diskurses mutet uns vielleicht weniger merkwürdig an, wenn wir darin eine Reaktion auf die klassische griechische Behandlung des Ursprungs und der Grundlagen sozialer Ungleichheiten sehen. Sowohl Platon als auch Aristoteles zum Beispiel werfen Varianten derselben zwei Fragen auf und beantworten sie mit der Behauptung, es gebe ein Fundament der menschlichen Ungleichheit in der Natur. Da die Natur Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten ausstatte – Unterschiede, die eine natürliche Rangfolge unter den Menschen bewirken–, komme sie als Quelle oder Ursprung der Ungleichheit in Frage. Diese natürliche Ungleichheit sei zudem die Grundlage der sozialen Ungleichheit. Sie erkläre, warum Ungleichheiten in der Welt herrschen, und ganz allgemein, wer welche Position besetzen solle. In dem Maße, wie sie natürliche Ungleichheiten spiegeln, sind faktische soziale Ungleichheiten gerechtfertigt – von der Natur autorisiert. Für Aristoteles gibt es ebenso Herren und Sklaven von Natur aus, wie es natürliche, Ungleichheit rechtfertigende Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren gibt. Platon unterscheidet drei Arten von Seelen, die den drei Metallen Gold, Silber und Bronze entsprechen. Solch natürliche Unterschiede rechtfertigen nach Ansicht von Aristoteles viele bestehende Ungleichheiten; in Platons Augen belegen sie die Unnatürlichkeit bestehender politischer Ordnungen und begründen die Notwendigkeit radikaler politischer Reformen, wenn die Gesellschaft so sein soll, wie Vernunft – und Natur – es fordern. Die Unterschiede als ›natürlich‹ zu bezeichnen, beinhaltet für beide, dass sie nicht Menschenwerk und daher unabänderlich sind; nichts Menschliches könnte oder sollte daran etwas ändern wollen.

      Von einem modernen Blickwinkel aus ist es interessant, dass die Unterschiede, die für Platon und Aristoteles Ungleichheit rechtfertigen, von ihren Nutznießern nicht verdient sind. Sie spiegeln die natürlichen Vorzüge von Individuen und sind von ihren Besitzern nicht erworben worden. Viele zeitgenössische Philosophen – die sogenannten ›luck egalitarians‹ – verbeißen sich in die Vorstellung, dass Ungleichheiten nur dann zu rechtfertigen sind, wenn die Bessergestellten verdient haben, was sie besitzen, wobei unter ›verdienten Vorzügen‹ normalerweise solche verstanden werden, die von den eigenen (metaphysisch) freien Handlungen abhängen, und nicht davon, was der glückliche Zufall ihnen in den Schoß gelegt hat: etwa reiche Eltern oder gute Gene.8 (Rousseau teilt, wie wir sehen werden, diese Auffassung nicht.) Nicht weniger interessant ist der Umstand, dass sich gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich Macht, Autorität oder Ansehen für diese antiken Denker nicht notwendigerweise in gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich materieller Güter überführen lassen. Ganz offensichtlich ist das bei Platon, denn er schränkt das Streben nach Reichtum auf die unterste Klasse in der natürlichen Rangordnung der Seelen ein. Heute ist es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, die Vorteile, die mit mehr Macht oder höherem Ansehen einhergehen, ließen sich von großem Reichtum trennen, und Rousseau greift in einer Zeit zur Feder, wo sich dies auch für seine Welt zu bewahrheiten beginnt (DU, 183 f. / OC III, 189).

      Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen der antiken und der neuzeitlichen Welt zählt, dass diese die Auffassung, man könne sich auf die Natur berufen, um soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen, verwirft, eine Haltung, die normalerweise damit zusammenfällt, vom Standpunkt der Moral aus die fundamentale Gleichheit aller Menschen zu bekräftigen. Worin diese fundamentale Gleichheit freilich besteht und was sie für die Sozialphilosophie beinhaltet, das sind knifflige Fragen, auf die neuzeitliche Philosophen unterschiedliche Antworten bereithalten. Wie auch immer die Frage beantwortet wird, die fundamentale moralische Gleichheit aller Menschen zu behaupten wirft ein großes Problem auf, vor dem die Alten mit ihrer Antwort auf den Ursprung der Ungleichheit nicht gestanden haben: Wie ist soziale Ungleichheit, ein offenbar dauerhaftes Merkmal moderner Gesellschaften, zu rechtfertigen, wenn sie nicht darauf zurückzuführen ist, wie die Natur – oder Gott – die Welt eingerichtet hat, und es stattdessen die Prima-Facie-Annahme gibt, kein Individuum könne beanspruchen, von der Gesellschaft besser als ein anderes behandelt zu werden? Beinhaltet die Bejahung der moralischen Gleichheit aller Menschen, dass allein eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten zu rechtfertigen ist? Und wenn dem so ist, folgt dann daraus, dass moderne Gesellschaften hoffnungslos verdorben sind?

      Es lohnt sich zu betrachten, wie der ›gesunde Menschenverstand‹ von heute diese Fragen zu beantworten geneigt ist. Fragt man ihn danach, was die Allgegenwart von Ungleichheit in menschlichen Gesellschaften erklärt, wird ›der Mann [oder die Frau] auf der Straße‹ vermutlich die eine oder andere Version der Behauptung anführen, Ungleichheit sei eine mehr oder weniger notwendige Folge der grundlegenden Bedürfnisse und Triebe, die das menschliche Verhalten überall und seit jeher motivieren, was in Verbindung mit gewissen gleichbleibenden Eigenschaften der conditio humana ›von

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