Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Группа авторов

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Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart - Группа авторов Forum Modernes Theater

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Die Beziehung zwischen Referent (Gegenstand) und Signifikat (Bild) unterscheidet nicht mehr zwei unterschiedliche Ebenen oder Niveaus. Referenten sind zu Bildeinheiten (Manga) geworden, während die bewegten Signifikate, die Körper der Darstellerinnen Ann Lee zu einer Realität werden, die durch ihre Bilder hindurch „spricht.“

      Das ist die Technik des Palimpsestierens, je nachdem ob man es auf das Ganze hin betrachtet (wie im Fall der afrikanischen Orestie von Pasolini) oder auf Figuren hin, die sich aus unterschiedlichen Bildarten zusammensetzen (wie bei Sehgal), kann für die Technik des Palimpsestierens festgehalten werden: Ihre Prozesse des Überprägens oder Durchprägens spielen nicht in den Kategorien von erster und zweiter Stufe, von Original und Kopie, von Referent und Signifikat. Diese Beziehung tritt zugunsten des In-situ eines gemeinsam geteilten Stellplatzes zurück. Dieser Stellplatz ist nicht gegeben, sondern ebenfalls hergestellt und konstruiert. Indem sich die künstlerische Aufmerksamkeit auf die Untersuchung dieser vorgängigen Bedingung stützt, tritt anstelle der Referentialität die Modulation in das Spiel ein, das den Spielenden nicht zugehört, sondern das durch sie lediglich zur Darstellung gelangt.

      Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten

      Tragische Figurationen der Durchquerung

      Silke Felber (Universität Wien)

      Das Tragische beschreibt eine Spielfläche des Dialektischen, auf der Unschuld in Schuld umschlägt, Unwissende zu Wissenden werden, Macht von Ohnmacht abgelöst wird. Konflikte treffen hier nicht auf eindeutige Lösungen, sondern offenbaren vielmehr komplexe Fragestellungen, die stets in einer vertrackten Aporie münden. Sind Antigones heilige Gesetze über die nomoi des Souveräns zu stellen? Soll Pelasgos den Danaiden gemäß des Rituals der Hikesie Asyl gewähren und dadurch einen Krieg riskieren oder aber das Gesuch der Bedürftigen abwenden und sich so gegen die heilige Pflicht stellen? Es ist die Unentscheidbarkeit solcher Konstellationen, die die bis heute ungebrochene Faszination für die Texte des Aischylos, Sophokles und Euripides bewirkt. Die tragischen Held*innen, die darin zu Tage treten, sind Teil einer Assemblage, innerhalb derer die Grenzen zwischen Gott und Mensch, zwischen Vernunft und Wahn, zwischen belebt und unbelebt fließend sind. Agamemnon, Medea, Elektra – sie alle bewegen sich inmitten einer sonderbaren Zone des Dazwischen. In dieses Dazwischen dringen, so möchte ich behaupten, die Theatertexte Elfriede Jelineks, die sich seit den späten 1990er Jahren quasi ausnahmslos auf die griechisch-antike Tragödie stützen. Diese Texte lassen – so meine These – dem Menschen eine paradoxe (Un-)Sichtbarkeit zuteilwerden: Einerseits rücken sie seine zerstörerische Kraft im Rekurs auf die Hybris tragischer (Anti-)Helden wie Herakles (Wut, 2016) oder Ödipus (Am Königsweg, 2017) ins Zentrum, andererseits treten Menschen in diesen gemeinhin als „postdramatisch“ etikettierten Arbeiten als solche nicht zutage. Jelineks Theatertexte, darüber ist sich die Forschung spätestens seit Entstehung der Agamemnon-Revision Das Lebewohl (2001) einig, führen keine psychologisch konzipierten Figuren ins Spiel. Vielmehr lassen sie Sprachmasken auftreten, hinter denen sich oftmals lediglich ein indeterminiertes, rätselhaftes „Ich“ oder ein „Wir“ verbirgt. Darüber hinaus finden wir darin Tiere, Engel und Gottheiten vor, d. h. Figurationen, die das sogenannte Humane überschreiten.

      I

      Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Abbildung einer griechisch-antiken Vase, die auf Jelineks Website zu finden ist.1 Sie illustriert den Theatertext Schnee Weiß (Die alte Leier), den die Autorin Anfang 2019 unter dem Eindruck der Enthüllungen der ehemaligen Schirennläuferin Nicola Werdenigg publiziert hat.2 Werdenigg war 2017 im Fahrwasser der #metoo-Debatte an die Öffentlichkeit getreten, um den österreichischen Skiverband (ÖSV) des systematischen Machtmissbrauchs zu bezichtigen. Sie gab an, in ihrer Zeit als aktive Athletin mehrfach Opfer und Zeugin sexualisierter Gewalt gewesen zu sein. Ausgehend davon beleuchtet Schnee Weiß die gesellschaftlichen Voraussetzungen für sowie die Verleugnung von humaner Gewalt und fragt nach den Spuren, die sie am menschlichen Körper, aber auch an der Natur hinterlässt.

      Das abgebildete Exponat, von dem die Rede ist, stellt aus kunst- und theaterhistorischer Sicht einen absoluten „Jackpot“ dar. Es handelt sich dabei um die so genannte Pronomosvase, d. h. um das bedeutendste uns vorliegende Artefakt in Bezug auf das griechisch-antike Theater überhaupt. Im Gegensatz zu anderen erhaltenen Vasen illustriert dieses 400 v. Chr. gefertigte Fundstück nicht ausschließlich Szenen aus bestimmten Tragödientexten, sondern informiert darüber, wie die antiken Texte aufgeführt worden sind.3 Gewidmet ist die Vase ihrem Namensgeber Pronomos – einem berühmten Aulos-Spieler Thebens, der auf der Vase explizit benannt wird und eine zentrale Position darauf einnimmt. Die zweite Person, deren Name auf der Vase genannt wird, dürfte der Chorege, d. h. der Sponsor der dargestellten Produktion gewesen sein. Umsäumt werden beide Schlüsselfiguren von einem Ensemble aus zwei bzw. drei Schauspielern,4 dem Spieler von Papposilenos (d. h. dem Vater der Satyrn) und einem 11-köpfigen Chor. Mit Ausnahme von einer sind alle der 15 abgebildeten Figuren kostümiert und halten ihre Masken in der Hand. Die übrige Figur trägt die Satyrmaske und befindet sich offensichtlich in der Rolle. Im ikonographischen Bezug auf dieses theaterhistorisch so bedeutende Artefakt der Pronomosvase referiert Jelinek implizit auf das Verhältnis von Theatertext und –aufführung. Sie hebt die oftmals vernachlässigte Tatsache hervor, dass Tragödie, Satyrspiel und Komödie für die Bühne gedacht und gemacht waren und unterstreicht dadurch gleichzeitig die Theatralität ihrer eigenen Texte.

      Darüber hinaus haben wir es bei der Abbildung mit einer Visualisierung eines Intertexts zu tun, auf den sich Jelinek in Schnee Weiß explizit bezieht – nämlich auf Sophokles’ Satyrspiel Die Satyrn als Spürhunde. Satyrspiele wurden bei den Wettbewerben der Großen Dionysien als heiteres Nachspiel der Tragödien gezeigt. Bei den namengebenden Satyrn handelt es sich um mythologische Gestalten, die in visuellen Darstellungen oftmals mit erigiertem Penis erscheinen und dadurch auf den unstillbaren sexuellen Appetit verweisen, der ihnen nachgesagt wird. In Jelineks Theatertext Schnee Weiß dienen die derben Späße der Satyrn als Folie, vor der die Autorin die Allgegenwart herabwürdigender und frauenverachtender Rede entlarvt. Interessant für unseren Kontext nun aber ist die Erscheinungsform der Satyrn. Sie verfügen sowohl über menschliche wie auch über animalische Attribute und können mithin als Figurationen der Durchquerung gelesen werden. Darüber hinaus stehen sie Pate für ein Genre, das sich ebenfalls in einem so genannten In-Between befindet. Tatsächlich changiert das Satyrspiel zwischen Tragödie und Komödie. Einerseits nämlich lässt der von anzüglichen und obszönen Redewendungen und Sprichwörtern geprägte Stil des Satyrspiels an die Komödie des Aristophanes denken. Was Sprache, Metrik und Bauart betrifft, ist es aber der Tragödie näher. Ähnliches gilt für Aufführungsspezifika wie Kostüme und Requisiten, die jenen der Tragödie gänzlich oder zumindest teilweise entsprechen.5 Obschon das Satyrspiel auf das Lachen des Publikums abzielt, so unterscheiden sich die ästhetischen Verfahren, die ein solches Lachen gerieren, wesentlich von denen, die in den Komödien vorzufinden sind. Bernd Seidensticker bringt es auf den Punkt, wenn er behauptet: „Das Satyrspiel teilt zwar mit der Komödie die Vorliebe für die materialistischen Aspekten des Lebens und für die Darstellung alltäglicher Situationen und Tätigkeiten, es präsentiert sie jedoch nicht realistisch als den Alltag des Zuschauers, sondern mythisch distanziert.“6 Die Komik, mit der wir es hier zu tun haben, resultiert aus dem bestehenden Gefälle, das zwischen den beiden präsentierten Welten, d. h. jener der mythologischen Helden und jener der Satyrn, herrscht. In dieses apollinisch/dionysische „Dazwischen“ dringt Schnee Weiß. Der Theatertext pendelt zwischen Mythos und Banalem, zwischen hohem Ton und Vulgarismen. Er bemüht Pathos, bricht es aber sogleich wieder in sarkastischer Manier. Die derben Späße der Satyrn dienen in diesem Zusammenhang als Referenzrahmen für das Sittenbild einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt nach wie vor verharmlost wird.

      Auch der 2011 entstandenen Theatertext Kein Licht. bezieht sich intertextuell auf Sophokles’ Die Satyrn als Spürhunde.7 Wovon also handelt dieses antike, fragmentarisch erhaltene Satyrspiel?

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