Der Tod läuft mit. Peter Gerdes
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Seinetwegen war Stahnke überhaupt hergekommen. Schließlich waren sie sich in den letzten Jahren oft genug über den Weg gelaufen, da hatte sich einiges an gemeinsamer Erfahrung angesammelt. Die meiste Zeit war ihr Verhältnis nicht gerade positiv gewesen; Stahnke hatte sich darüber geärgert, dass sich dieser vorwitzige, fast 20 Jahre jüngere Journalist immer wieder in seine Fälle eingemischt hatte, Marian Godehau hatte dem Hauptkommissar nicht nur anfänglich stark misstraut und sich mehr als einmal von ihm benutzt gefühlt. Sie siezten sich immer noch, aber eine gewisse Verbundenheit war dennoch nicht zu leugnen. Eine kumpelhafte Vertrautheit, anders als Freundschaft, aber nicht minder intensiv. Ob es das war, wovon alte Kriegskameraden immer faselten? Grinsend schüttelte Stahnke den Kopf.
Das Fahrrad war noch da. Grellgelb leuchtend lehnte es an einem der alten Bäume zwischen Bolzwiese und Fahrradweg, der hier die Peripherie des Parks schnitt. Ein Anblick wie ein Willkommensgruß, fand Stahnke, erfüllt von frischem Besitzerstolz und der Erleichterung darüber, dass sein neues Spielzeug noch nicht Eingang in die alarmierende Fahrraddiebstahl-Statistik gefunden hatte. Na ja, das Stahldrahtschloss war ja auch nicht eben billig gewesen.
Ein bisschen war dieses Fahrrad – 21 Gänge und optisch einem Mountainbike nachempfunden – eine Antwort auf Marian Godehaus sportliche Aktivitäten und damit Ausdruck jener unterschwelligen Rivalität, die sich zwischen den beiden Männern entwickelt hatte. Die stämmige Figur und die in mehrfacher Hinsicht belastenden Gewichtsprobleme hatte Stahnke eigentlich immer als verbindende, dauerhafte Gemeinsamkeit zwischen ihnen betrachtet, waren sie doch nicht nur Ausdruck einer ähnlichen Veranlagung, sondern auch eines vergleichbaren Lebensstils.
Als Marian dann eines Tages seine Diät- und Sportpläne verkündet hatte, fand Stahnke das lächerlich. Dass er diese Pläne tatsächlich umzusetzen begann, hatte etwas Provokantes. Sein Erfolg aber war Verrat.
Also hatte Stahnke sich dieses Fahrrad gekauft, um zu beweisen, dass er noch viel mobiler sein konnte und dabei mit Sicherheit eine bessere Figur machte als so ein hoppelnder Jogger mit steifen Hüften. Um das Geld – weit über 500 Euro hatte das Schmuckstück gekostet – tat es ihm nicht leid. Allerdings war er bei dieser Gelegenheit darauf gestoßen, dass bei ihm zu Hause im Keller ein Rudergerät, ein Hometrainer und ein Satz Hanteln gründlich eingestaubt herumstanden. Offenbar neigte er dazu, Taten durch Käufe zu ersetzen. Jedenfalls, wenn es um körperliche Fitness ging.
Wie hieß das noch: »The difference between man and boy is in the price of his toy.« Tja, vermutlich. Jedenfalls würde er jetzt nach Holtland radeln und Marian Godehau dort am Ziel bei der Mühle erwarten. Vielleicht mit einer Flasche Wasser in der Hand. Der würde gucken.
So ein Trenchcoat war nicht sehr praktisch auf dem Rad, außerdem schien es immer wärmer zu werden; unter dem feuchten Blätterdach des Parks begann sich sogar sommerliche Schwüle zu verbreiten. Stahnke zog den Mantel aus und rollte ihn zusammen, um ihn auf den Gepäckträger zu klemmen, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass nichts aus den Taschen fallen konnte. Vor allem dieser komische Brief nicht, der rechts außen steckte und durch vernehmliches Knistern an seine Existenz erinnerte.
Heute früh hatte der Brief bei der Dienstpost gelegen, ausdrücklich an ihn adressiert, »z. Hd. Hauptkommissar Stahnke«. Ohne Absender. Inhalt: ein Gedicht.
Jedenfalls eine Art Gedicht, ziemlich kurz und ungereimt, irgendwas von brennendem Wasser und einem Ende im Frühling. Nichts, was irgendeinen Sinn ergab. Stahnke konnte sich keinen Reim darauf machen. Möglicherweise etwas Privates, trotz der dienstlich klingenden Anrede. Aber was? Ging es um seinen Hang zu Feuerwasser? Schnaps trank er doch kaum, im Gegensatz zu Wein und Bier. Und Schluss gemacht hatte er in diesem Frühling mit niemandem. Da war ja gar nichts gewesen, was hätte beendet werden können. Traurig genug, aber wenigstens in diesem Fall halbwegs beruhigend.
Vielleicht ein blöder Scherz. Jedenfalls hatte Stahnke den Brief nicht weggeworfen. Man wusste ja nie, ganz recht, Kollege van Dieken.
3
Er hatte überlegt, ob ihm wohl zuerst die Lungenflügel wehtun würden oder die Beinmuskeln und hatte schließlich auf Seitenstechen getippt. Tatsächlich waren es die Arme. Unglaublich, wie schwer es ihm wurde, die Ellbogen angewinkelt zu halten. Immer wieder wollten seine Unterarme, deren gut entwickelte Muskeln seine heimliche Eitelkeit ansonsten erfolgreich stützten, wie schlappe Leberwürste der Schwerkraft nachgeben und die verkrampften Hände kraftlos Richtung Straße baumeln lassen. Schon mehrmals hatte Marian die Hände haltsuchend auf die Hüftknochen gestemmt, was aber einen derart peinlichen Watschelgang zur Folge gehabt hatte, dass er das ganz schnell wieder sein ließ und lieber die Zähne zusammenbiss.
Ein Schal müsste die Lösung sein, dachte er. Ein dünner Schal um den Nacken, beide Enden um die Hände gewickelt. Das hatte er schon einmal irgendwo gesehen, bei einem dieser kostümierten Juxläufer zwar, aber egal, das müsste gehen. Auf der nächsten Etappe würde er das machen, ganz bestimmt. War doch egal, ob die anderen dumm guckten.
Wenn er diese Etappe nur erst überstanden hätte.
Den Julianenpark, ein paar Asphaltstraßen und den Wanderweg vom Leeraner Stadtteil Heisfelde zum Vorort Logabirum hatten sie jetzt hinter sich, und Marian hatte sich an den Klang seines eigenen Keuchens gewöhnt. Immer öfter liefen sie jetzt in der prallen Sonne. Es war heiß, und es schien immer heißer zu werden. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, glitzernde Kügelchen, die sich aufblähten, bis die Oberflächenspannung ihrer Masse nicht mehr Herr zu bleiben vermochte, so dass sie platzten und zu sickernden Rinnsalen wurden, aus deren Zusammenfluss sich kleine Bäche bildeten, die ihm über die Schläfen und in die Augenwinkel rannen. Einzelne Tropfen, durch die Erschütterungen seiner stampfenden Schritte von der Haut katapultiert, fanden den Weg an den Augenbrauen vorbei bis an die Innenseiten seiner Brillengläser, wo sie herabliefen und verdunsteten und dabei breite, salzige Spuren hinterließen, die seinen Blick noch zusätzlich trübten. Das T-Shirt pappte ihm am Rücken wie ein nasser, warmer, vom vielen Wischen klebriger Feudel. Ebenso wie seine Zunge am trockenen Gaumen. Getränke-Stände bei Volksläufen hatte er immer für albern gehalten. Jetzt sehnte er einen herbei.
Längst hatte sich das Feld auseinander gezogen, war der vielbeinige Lindwurm in seine Segmente zerfallen, kleine Pulks, zwischen denen aufholende und zurückfallende Läufer wie keuchende Boten die Verbindung aufrechterhielten. Marian stellte fest, dass diejenigen, die zu ihm aufschlossen und ihn überholten, bei Weitem in der Mehrzahl waren gegenüber denen, die er überholte. Steigerten die anderen das Tempo? Nicht anzunehmen, hier auf der ersten Hälfte der Strecke. Vermutlich wurde er nur langsamer.
Sie waren vom Wanderweg nach rechts auf eine Straße abgebogen. Jetzt ging es erneut nach rechts. Alles in ihm sträubte sich dagegen, wieder zurück in Richtung Leer, in Richtung Start zu laufen, und er musste sich regelrecht dazu zwingen, dem Streckenverlauf zu folgen. Zum Glück ging es wenig später wieder nach links, und der Weg wurde leicht abschüssig, was überraschenderweise aber keine Erleichterung brachte; vielmehr drohten die Beinmuskeln bei dieser ungewohnten Belastung zu verkrampfen.
Wieso ging es überhaupt bergab, hier im pfannkuchenflachen Ostfriesland? Marian schaute hoch und stellte fest, dass sie an einem Friedhof entlangliefen, einem einladend begrünten Platz mit sauberen schwarzen Steinen und ordentlichen hellen Karrees, gesprenkelt mit ein paar Findlingen und fast deplatziert wirkenden Kreuzen. Das musste der Friedhof von Logabirum sein; der lag natürlich direkt neben der Dorfkirche, und die wiederum auf einer Warft, einem künstlichen Hügel, der das Gotteshaus einst bei Sturmfluten vor dem Wasser hatte schützen sollen. Hoch und trocken. Gott und die Toten haben es gut, dachte Marian, während ihm