Der Tod läuft mit. Peter Gerdes

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Der Tod läuft mit - Peter Gerdes

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groß passieren?«

      Wieder wandte sich Stahnke um, aber der bedeutungsvolle Blick, der Rieken und van Dieken zugedacht war und künftige Korrekturen der Dienstplangestaltung androhen sollte, fiel ins Leere. Die beiden schienen auch Meister im rückstandslosen Verschwinden zu sein.

      »Einer wie Herr Krüger ist natürlich immer gefährdet.« Der Arzt nickte sich selber bestätigend zu, schien sich förmlich in seine eigene Personenschutzthese einzuwickeln. Stahnke ließ ihn gewähren. »Darum also waren Sie mit dem Fahrrad auf der Strecke. Hatte mich schon gewundert. Wissen Sie, eigentlich mögen wir Läufer das ja nicht, es könnte ja sein, dass jemand einen Schrittmacher vorausfahren lässt. Aber Sie haben ja öfter Ihre Position gewechselt.«

      »Das haben Sie bemerkt?«

      »Ja, ich war meistens hinter Ihnen. Bin keiner von den Schnellsten, wissen Sie.« Er lächelte ein verzerrtes, Nachsicht und aufbauendes Lob heischendes Lächeln; Stahnke fühlte sich peinlich berührt. Da er keinerlei Reaktion zeigte, plapperte sein Gegenüber weiter. »Aber vor sich selber kann man ja niemanden schützen, das gilt offenbar auch für Herrn Krüger. Aus dem gefährlichen Alter, in dem Männer den natürlichen Leistungsabfall nicht wahrhaben wollen und ihn einfach ignorieren, ist er ja eigentlich schon heraus. Aber sein Ehrgeiz ist wohl stark entwickelt, stärker als sein Kreislauf. Man kann es auch Eitelkeit nennen. Würde ich mir aber nie erlauben.«

      »Wann ist denn dieses gefährliche Alter?«, fragte Stahnke.

      »Na so zwischen 40 und 50«, sagte der Arzt. Er musterte den Hauptkommissar eingehend und öffnete den Mund. Als er aber in Stahnkes Gesicht schaute, kniff er die Lippen wieder zusammen, grüßte kurz und wandte sich ab.

      Gefährliches Alter! Wenn überhaupt, dann pflegte Stahnke von sich selbst als Gefahr für andere zu denken, nicht aber als gefährdet. Dass ihm sein Übergewicht keinen sonderlich beneidenswerten Platz in der Lebenserwartungsstatistik sicherte, war ihm bewusst. Den Arzt aber, der ihm das anhand seiner Blutwerte vorgerechnet hatte, mied er schon seit Jahren – und ging es ihm deswegen etwa schlechter?

      Prüfend fuhr er mit den Handflächen seine Rumpfkonturen ab. Sehr bedauerlich, dass sein Trenchcoat noch auf dem Gepäckträger klemmte. Ohne ihn fühlte er sich plötzlich deckungslos.

      »Na, was macht Ihnen denn Bauchschmerzen?« Wie aus dem Boden gewachsen stand Sina Gersema vor ihm, strahlend und rosig, aufgekratzt und immer noch so erhitzt, dass sie ihn förmlich einhüllte in eine bauschige Wolke aus Körperwärme und Schweißduft. Ja, eindeutig Duft, ein wenig mit den Spuren eines überforderten Deodorants verbrämt, hauptsächlich aber der Duft frisch vergossenen Schweißes, vergossen von einem Frauenkörper. Von einem außerordentlich hübschen Frauenkörper, der in knappem Sportdress wenig mehr als eine Spanne vor seinen Hemdknöpfen zu vibrieren schien, offenbar immer noch unter den Nachwirkungen des Laufes. Sie schien ihn genossen zu haben – kein Vergleich mit dem Bild des Jammers, das Marian Godehau vorhin abgegeben hatte.

      Stahnke ertappte sich dabei, wie er auf Sinas pinkfarbenes Trikot starrte, senkte seinen Blick, woraufhin Sinas sanft gebräunte Oberschenkel und sein eigener Bauch ins Blickfeld gerieten. Schnell hob er Kopf und Lider. Sina lächelte immer noch, war anscheinend in einer Stimmung, dass sie die Welt hätte umarmen können, und Stahnke spürte den Anflug der Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn sie etwas mit ihm anfangen würde. Dann fiel sein Blick auf ein anderes Gesicht oberhalb von Sina Gersemas linker Schulter. Ein büffelbreites Gesicht unter schwarzen Locken über breiten Schultern und einem schweren Körper. Der Mann, der ihn vorhin auf der Strecke fast umgerannt hätte. Ach du Scheiße, dachte Stahnke und wünschte sich sein Fahrrad herbei.

      Dieses impertinente Lächeln, diese affektiert gefletschten Zähne, diese grabschend ausgestreckte Hand. Stahnkes Rechte wurde gepackt und geschüttelt, ehe er sie noch hinter seinem Rücken in Sicherheit bringen konnte. »Herr Hauptkommissar, schön, Sie endlich einmal unter freiem Himmel anzutreffen!« Na klar, gleich zur Begrüßung eine Spitze, hübsch verpackt in Scheinheiligkeit, aber deutlich aus der Hülle herauspiekend. Stahnke wusste schon, warum er diesen Helmut Zimmermann nach Möglichkeit mied. Aber es war eben nicht immer möglich, schließlich war der Kerl unter anderem auch Rechtsanwalt und er Bulle.

      »Mitlaufen hätten Sie sollen, statt hier nur rumzustehen. Das gibt Kraft! Kraft und Freude!«

      Sina, von Zimmermann zur Seite gedrängt, drehte sich halb um und stemmte die Arme in die Hüften, wobei Stahnke einen verstohlenen Blick auf die Rückfront ihrer Radlerhose werfen konnte, die ihren Po perfekt und faltenfrei nachmodellierte. Selbst die üblichen Abdrücke eines Slips waren nicht zu erkennen. Lief sie etwa ohne? Er räusperte sich, ohne so recht zu wissen, warum.

      Zimmermann hielt seine Hand immer noch gepackt, lachte dröhnend und schien weder das Händeschütteln noch das aufgepfropfte Gespräch so schnell abstellen zu wollen. Stahnke richtete seine wasserblauen Augen auf Zimmermanns schwarzbraune aus, tauchte förmlich ein in diesen provozierenden Blick, nahm die Herausforderung an und nagelte ihn dadurch fest. Während er nun ebenfalls die Zähne bleckte, tastete er mit Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten über Zimmermanns Handrücken, presste sie in die Lücke zwischen dem zweiten und dritten Mittelhandknochen und verstärkte gleichzeitig den Druck seiner Hand. Zimmermanns Augen weiteten sich, während seine Hand erschlaffte und Stahnke die seinige endlich lösen konnte.

      »Kraft«, sagte er, »Kraft kommt aus der Ruhe, Herr Zimmermann. Nicht aus der Hetze.«

      Das war nicht übel, das sollte ich mir aufschreiben, überlegte Stahnke selbstzufrieden, während sich Zimmermann wortlos abwandte, wobei er seine rechte Hand mit der linken umklammert hielt. Der Druck hatte gepasst, der Schmerz musste heftig gewesen sein. Dass Zimmermann dabei nicht geschrien hatte, passte wiederum zu ihm.

      Sina folgte ihm nicht. Wieso war sie überhaupt mit ihm zusammen aufgetaucht? Eine Zufallsbekanntschaft unter Läufern? Aber sie musste Zimmermann doch kennen, schließlich stand der noch häufiger in der Zeitung als Wendelin Krüger, und nach allem, was Stahnke von Sina wusste, sollte Zimmermanns Gesinnung ihr doch auch nicht sympathischer sein als ihm.

      Sina stand immer noch mit den Händen in den Hüften da, und wenn das Laufen tatsächlich ein Hochgefühl in ihr erzeugt hatte, dann war es inzwischen verflogen. »Was war denn das für ’ne Show?«, zischte sie. »Sie haben sich ja aufgeführt wie ein Gockel. Oberpeinlich! Das hätte Marian auch nicht besser hingekriegt. Was denkt ihr euch eigentlich?«

      Sie schleuderte ihren kastanienroten Haarbusch, der über ihre linke Schulter nach vorne bis über ihre Wange gerutscht war, mit einer energischen Kopfbewegung zurück in den Nacken. »Aber genau das ist es ja wohl, womit ihr Probleme habt. Denken. Scheint wohl wehzutun.« Wütend lief sie davon.

      So kratzbürstig habe ich sie ja noch nie erlebt, dachte Stahnke, während er die erneute Gelegenheit nutzte, Sinas rückwärtige Ansicht zu bewundern. Und so anziehend war sie ihm auch noch nie vorgekommen. Ob es da einen Zusammenhang gab?

      Bisher hatte er Marian Godehaus Freundin immer mit anderen Augen betrachtet, so wie die Ehefrauen von Kollegen; es schien da so etwas wie einen Filter zu geben, den er nur einzuschalten brauchte. Hatte sonst immer funktioniert. Gefährliches Alter? Der Arzt, den Sinas Auftauchen aus seinem Bewusstsein gelöscht hatte wie ein warmer Sommerregen eine Spur im Staub, fiel ihm jetzt wieder ein, und er drehte sich nach ihm um. Aber der junge Mann war nirgendwo mehr zu entdecken.

      Auch Sina war zwischen den umherschlendernden Passanten, die langsam weniger zu werden schienen, verschwunden. Dafür tauchte Marian in Stahnkes Blickfeld auf. Ziemlich weit entfernt, immer wieder von Vo­rübergehenden verdeckt, stand er da und starrte zu ihm herüber.

      Nein, jetzt nicht, dachte Stahnke und wandte sich ab.

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