Die Begine und der Siechenmeister. Silvia Stolzenburg

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Die Begine und der Siechenmeister - Silvia Stolzenburg

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war ein neuer Siechenmeister bestellt worden, ein alter, weißhaariger Mönch, der zwar sanft und gütig war, Lazarus jedoch nicht ersetzen konnte. Zu oft irrte er sich bei der Verabreichung von Arzneien und überließ die Behandlung der Kranken fast ausschließlich dem Wundarzt.

      Zu ihrem Verdruss spürte Anna, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Trotz all der Buße, die sie getan hatte, ließen sich die Gefühle für Lazarus nicht einfach ausreißen wie ein dürres Pflänzchen. Er hatte alles riskiert, um ihr das Leben zu retten, und bezahlte jetzt einen furchtbaren Preis dafür. Im Spital war lange Zeit gemutmaßt worden, welche Strafe ihn in Rom erwartete. Einige der älteren Brüder hatten den Spitalmeister dazu gedrängt, ein gutes Wort für ihn einzulegen, doch niemand wusste, ob der Magister Hospitalis dieser Bitte nachgekommen war. Das Gegenteil könnte der Fall sein.

      Da Anna sich vor Gertrud den eigenen Kummer nicht anmerken lassen wollte, kehrte sie ihr hastig den Rücken und verließ die Kammer, um Salbe und Binden zu holen. In der Kräuterküche angekommen, suchte sie nach einem Tiegel mit Schafgarbensalbe und bereitete einen Aufguss aus den Blättern derselben Pflanze zu. Dann mischte sie noch eine Tinktur aus zerstoßenen Blüten der Akelei, gab etwas Honig hinzu und brachte alles zu Gertrud in die Herberge.

      »Trink das«, sagte sie und wartete, bis der Becher geleert war. Schließlich bat sie Gertrud, ihr Untergewand hochzuziehen und trug die Salbe auf die Wunde auf. Dabei fielen ihr runde Male auf, die aussahen, als ob jemand die Frau gebrandmarkt hätte. Obwohl ihr zahllose Fragen auf der Zunge lagen, zügelte sie ihre Neugier. Es geht dich nichts an, appellierte sie an ihre Vernunft. Wenn sie nicht wieder in Schwierigkeiten geraten wollte, musste sie lernen, ihre Wissbegier zu zügeln.

      »Neugier ist eine Versuchung, der ein frommer Geist widerstehen muss«, hatte die Beginenmeisterin Anna gescholten, nachdem sie wohlbehalten von der Vorladung vor den Rat zurückgekehrt war. Mit einem Schaudern erinnerte sie sich daran, wie knapp Lazarus und sie einer Anklage entronnen waren. Hätte Annas Bruder Jakob nicht ein gutes Wort für sie eingelegt, säße sie jetzt vermutlich nicht an Gertruds Bett.

      Ein Schmerzenslaut und ein Zucken ließen sie die Gedanken an das, was passiert war, vergessen. »Entschuldigung«, murmelte sie zerknirscht und drückte vorsichtig eine Kompresse auf die Wunde. Dann verband sie Gertrud und half ihr, das Untergewand wieder über die Hüften zu ziehen. Da sie die Kerzenlampe auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett abgestellt hatte, fiel der Lichtschein auf Gertruds Gesicht, als sie den Kopf in den Kissen wandte. Dabei fiel Anna auf, dass sich hinter ihrem Ohr ebenfalls eine verschorfte Wunde befand. Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand aus, um Gertruds Haar zur Seite zu schieben. »Was ist das?«, fragte sie.

      Doch Gertrud hielt sie mit einem Griff ans Handgelenk zurück. »Nichts«, log sie. »Ich danke dir für alles, aber ich bin furchtbar müde.«

      Anna erschrak über die Kälte ihrer Hand.

      Sie zitterte.

      Obwohl sie am liebsten weiter in Gertrud gedrungen wäre, wusste sie, dass sie die Frau schlafen lassen musste. Wenn sie sich nicht innerhalb eines Tages erholte, würde Anna die Meisterin bitten, nach dem Wundarzt zu schicken. Ganz gleich, was sie versprochen hatte, sie würde diese Frau ganz gewiss nicht sterben lassen!

      Kapitel 2

      Nachdem Anna Gertruds Kammer verlassen hatte, machte sie sich auf zum Gemeinschaftsraum der Beginen, um mit den anderen Schwestern ein einfaches Mahl einzunehmen. Obwohl sie jeden Tag dankbar dafür war, eine der zwölf Frauen zu sein, die in dem großen Anwesen in der Frauengasse lebten, fragte sie sich, wie lange sie sich noch hinter den Mauern der Sammlung verstecken konnte. Nach allem, was mit dem Sohn des zweiten Bürgermeisters passiert war, würde ihr Bruder vermutlich eine Weile Ruhe geben. Doch Anna war sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihr erneut eine Ehe mit einem der reichen Patriziersöhne ans Herz legte. Als Pfleger des Heilig-Geist-Spitals war es hinderlich für ihn, dass seine Schwester einer Vereinigung angehörte, die vom Papst verboten worden war und von vielen Geistlichen als ketzerisch angesehen wurde. Nicht nur die Zisterziensermönche des gegenüberliegenden klösterlichen Pfleghofes bedachten die Beginen mit abfälligen Blicken. Zwar hatten sich die Frauen nach dem Konzil von Vienne den Barfüßermönchen angeschlossen und sich den Regeln dieses Ordens unterstellt, trotzdem wurden auch in Ulm immer öfter Rufe nach einer Schließung des Beginenhofes und einer Beschlagnahmung aller Besitztümer der Frauen laut.

      »Das sind Bräute des Teufels«, hatte Anna schon öfter auf ihrem Weg zum Heilig-Geist-Spital gehört. Jetzt, wo der Mann, der sie fast getötet hatte, den Posten des zweiten Bürgermeisters erhalten hatte, würden die feindlichen Stimmen vermutlich immer mehr Gewicht gewinnen.

      Sie zog schaudernd die Schultern hoch, da der Gedanke unweigerlich andere Erinnerungen mit sich brachte. In manchen Nächten wachte sie immer noch schweißgebadet auf, weil sie sich im Traum wieder in dem Kellerloch befand, in dem sie auf den sicheren Tod gewartet hatte. Hätte sie ihre Nase nicht in Angelegenheiten gesteckt, die sie nichts angingen, wäre all das Furchtbare nie geschehen. Mit einem Seufzen betrat sie das Hauptgebäude und erklomm die Treppe ins erste Obergeschoss, wo sich der Gemeinschaftsraum der Beginen befand. Nahezu alle Schwestern waren bereits um den langen Tisch versammelt, an dessen Kopfende die Meisterin aus einem Buch las. Die Kornmeisterin, die Kellerin, die Zinsmeisterin und die Schreiberin saßen ebenfalls am oberen Ende der Tafel und bedachten Anna mit tadelnden Blicken.

      Nachdem sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte, nahm sie Platz und fiel in das Gebet mit ein, das die Meisterin in diesem Moment begann. Mit gesenktem Kopf löffelte sie den lauwarmen Brei, während ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft gingen.

      Seit den Vorkommnissen im Frühjahr und Sommer schien die Meisterin sie mit einem noch strengeren Auge zu beobachten, weshalb Anna ihr so oft wie möglich aus dem Weg ging. Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte, ein Leben führen zu dürfen, das sich nur Frauen aus wohlhabendem Haus leisten konnten. Doch seit sie Lazarus’ Lippen auf ihren gespürt hatte, nagte eine sündige Unzufriedenheit an ihr. Warum hatte Gott sie die Wege kreuzen lassen? Weshalb quälte Er sie so? War das der Preis, den sie für ihr sündiges Verlangen bezahlen musste? Sie trank ihre Milch aus, schob die leere Schale von sich und starrte blicklos auf den kleinen Kreis aus Feuchtigkeit, den ihr Becher auf dem Tisch hinterlassen hatte.

      »Schwester Anna, auf ein Wort«, schreckte die Stimme der Meisterin sie auf.

      Sie hatte nicht bemerkt, dass auch die anderen Schwestern ihr Frühstück beendet hatten und Anstalten machten, den Gemeinschaftsraum zu verlassen.

      Sie erhob sich hastig und strich ihre Röcke glatt.

      »Wie geht es der Reisenden?«, erkundigte sich die Meisterin. »Hast du nach ihr gesehen?«

      Anna nickte. »Sie ist sehr schwach und hat hohes Fieber. Außerdem ist sie verletzt.«

      Die Meisterin sah sie fragend an.

      Anna beschrieb ihr die Wunde und die verheilten Verletzungen, die sie entdeckt hatte. »Sie behauptet, sie sei gestürzt, aber es sieht eher aus, als ob sie jemand furchtbar verprügelt hätte. Die Wunde ist entzündet. Wenn es ihr morgen nicht besser geht, sollten wir den Wundarzt holen.«

      Die Meisterin nickte. »Ich gehe zu ihr. Vielleicht vertraut sie sich mir an.« Sie wandte sich zum Gehen.

      Anna sah ihr nach und fragte sich, ob sie Gertrud zum Reden bringen konnte. Sie war sicher, dass die Kranke irgendetwas verbarg, doch es stand ihr nicht zu, sie weiter zu bedrängen. Mit gemischten Gefühlen verließ sie den Raum und ging zurück in den Hof, der immer noch in dichtem Nebel lag. Zwar hatte die Sonne inzwischen den Horizont erklommen, doch die schwachen Strahlen drangen kaum durch. Begleitet vom Klappern der Milchkannen und dem Schimpfen

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