Die Begine und der Siechenmeister. Silvia Stolzenburg
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Kapitel 5
Die nächsten Stunden brachte Anna damit zu, einem sterbenden Jungen Trost zu spenden und ihm die Hand zu halten, bis er eingeschlafen war. Ob er wieder aufwachen würde, bezweifelte sie, da er nur noch Haut und Knochen war. Ein Durchfall hatte ihn so sehr geschwächt, dass er nichts mehr bei sich behalten konnte, nicht einmal die leichten Suppen und Aufgüsse, die Anna ihm bereitet hatte.
Immer wieder schweiften ihre Blicke zu dem Amputierten ab, der so bleich war, dass seine Haut kaum von den weißen Laken zu unterscheiden war. Er hatte das Bewusstsein nicht wiedererlangt, dennoch schlugen seine Zähne deutlich vernehmbar aufeinander. Nachdem Anna sich versichert hatte, dass der Junge schlief, erhob sie sich, um nach dem Verwundeten zu sehen. Sie erschrak, als sie seine Haut berührte. Sie war eiskalt. Besorgt tastete sie nach seinem Aderschlag, konnte ihn jedoch kaum mehr spüren.
Der Mann lag im Sterben.
Einen Augenblick überlegte sie, ob sie den Wundarzt oder den Siechenmeister holen sollte, aber die konnten das Leben des armen Teufels auch nicht mehr retten. Er hatte seine Sünden gebeichtet und würde mit reiner Seele vor seinen Schöpfer treten. Das Barmherzigste war, ihm sein Leid so weit wie möglich zu erleichtern und ihn sterben zu lassen. Sie legte eine Decke über ihn, wischte ihm den Schweiß von der Stirn und sprach ein Gebet, in dem sie um ein schnelles Ende bat. Der Gedanke an die Qualen, die ihn sonst erwarteten, war unerträglich.
Sie hatte sich gerade wieder an das Lager des Jungen gesetzt, als sie Rufe durch die offene Tür der Dürftigenstube vernahm. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Brüder und Bedienstete im Hof zusammenliefen. Neugier regte sich in ihr. Die Neugier steht einer frommen Frau nicht gut zu Gesicht, ermahnte sie sich und blieb sitzen. Der Junge brauchte sie. Wenn er noch mal erwachte, wollte sie, dass er nicht alleine war. Sie legte ihm die Hand auf die Wange, um zu sehen, ob er Fieber hatte, doch er war genauso kalt wie der Mann, dem der Wundarzt die Beine abgenommen hatte.
»Der Herr sei deiner Seele gnädig«, murmelte Anna, als sie sah, dass er unregelmäßig atmete. Obwohl die Stimmen aus dem Hof immer lauter wurden, widerstand sie dem Drang nachzusehen, was vor sich ging, und blieb bei dem Knaben, bis sein Herz aufhörte zu schlagen. Danach wusch sie den Toten, sprach Gebete für ihn und schickte nach einem Priester, damit der Leichnam mit Asche bestreut und in ein Leichentuch eingenäht werden konnte. Der Tod war allgegenwärtig im Spital und obwohl Anna jedes Schicksal zu Herzen ging, wusste sie, dass die Verstorbenen bei ihrem Schöpfer Gerechtigkeit finden würden. Wer reinen Herzens und reiner Seele war, den erwartete der Einzug ins Paradies.
Sobald der Priester sie entlassen hatte, ging sie weiter zu der nächsten Kranken und verbrachte die folgenden Stunden damit, Tränke zu verabreichen und mit den Einsamen zu sprechen.
Schließlich, die Glocke der Spitalkirche rief bereits zur Terz, verließ sie die Dürftigenstube, um am Stundengebet teilzunehmen. Die Kirche war schon so voll, dass sie dicht beim Ausgang bleiben musste, und sobald das Gebet beendet war, ging sie zurück in den Hof. Trotz aller guten Vorsätze regte sich Neugier in ihr, als sie sah, dass sich sofort wieder kleine Gruppen aus Mägden und Knechten bildeten. Obwohl Tratsch und Klatsch im Spital mit Bußen belegt wurden, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Was gab es so Wichtiges, das alle in helle Aufregung versetzte? Wenngleich sie sich geschworen hatte, der Meisterin keinen Grund mehr zum Tadel zu geben, war ihre Wissbegier stärker als ihre Demut. Deshalb beschloss sie, sich auf den Weg in die Stube der Wöchnerinnen zu machen, da sie so an einer kleinen Traube von Mägden vorbeikam, die besonders gestenreich miteinander redeten.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie, als sie die Frauen erreichte.
Einige von ihnen kicherten.
»Hast du es noch nicht gehört?«, entgegnete eine Frau mittleren Alters, auf deren Oberlippe ein veritabler Damenbart wuchs.
»Was?«
»Hast du ihn in der Kirche denn nicht gesehen?«, wollte eine andere Magd wissen.
»Wen?« Anna folgte den Blicken der Frauen, die zum Eingang der Spitalkirche starrten. Dort standen mehrere Ordensbrüder um einen Mann in ihrer Mitte herum.
»Bruder Lazarus ist zurück!«
Die Worte trafen Anna wie ein Schlag. »Lazarus?«, hauchte sie.
Die Frau kniff die Augen zusammen und musterte sie forschend. »Ja. Er war in Rom. Aber das wusstest du sicher.«
Die anderen Mägde kicherten erneut.
Es kostete Anna beinahe unmenschliche Anstrengung, sich zusammenzureißen, damit die klatschsüchtigen Weiber ihr nicht ansahen, was für einen Sturm der Gefühle die Nachricht in ihr auslöste. Lazarus war wieder da! Das konnte nur bedeuten, dass ihm die Oberen des Ordens vergeben hatten. Freude vermischte sich mit der Furcht, dass sie sich irren könnte. Womöglich hatte man ihn zurück nach Ulm geschickt, damit der Spitalmeister sich um seine Bestrafung kümmern konnte. Sie ließ die Mägde stehen, ungeachtet der Blicke, mit denen sie sie bedachten, und überlegte, was sie tun sollte. Sie musste ihn sprechen, erfahren, wie es ihm ergangen war. Sie sehnte sich so danach, seine Stimme zu hören und ihm in die Augen zu sehen, auch wenn sie wusste, dass ihr Verlangen nach seiner Nähe sündig war. Er hatte ihr so unglaublich gefehlt!
Einige Augenblicke verharrte sie am Rand des Brunnens, ehe sie es wagte, sich der Kirche zu nähern. Die Brüder, die Lazarus umringt hatten, zerstreuten sich allmählich und Anna flehte zur Heiligen Jungfrau, dass Lazarus in ihre Richtung blicken möge. Zuerst hatte es den Anschein als ob ihr Flehen auf taube Ohren stieß, dann wandte Lazarus sich um und sah sie direkt an. Selbst aus der Entfernung war zu erkennen, dass sein Gesicht hohlwangiger war, seine Augen tiefer lagen. Sein Blick blieb einen Moment lang an Anna haften, ehe er weiterwanderte, als habe er sie nicht gesehen.
»Lazarus«, sagte sie so leise, dass er es unmöglich hören konnte. Sie hob die Hand, um ihm zuzuwinken.
*
Es kostete Lazarus beinahe übermenschliche Anstrengung, Annas Gruß nicht zu erwidern. Ihr Anblick schnitt ihm tief ins Herz und er spürte, wie das Verlangen, sie in den Armen zu halten, mit solcher Gewalt zurückkam, dass es ihn körperlich schmerzte. All die Zeit in Rom über hatte er nicht zu hoffen gewagt, sie jemals wiederzusehen, und jetzt stand sie kaum einen Steinwurf entfernt und war dennoch unerreichbar für ihn. Die Oberen des Ordens hatten ihm unmissverständlich klar gemacht, was geschehen würde, wenn er noch mal gegen die Regeln verstieß.
»Wir haben beschlossen, gnädig zu dir zu sein, Bruder Lazarus«, hatten sie ihn informiert, als er vor sie gebracht worden war. »Du hast dir bisher nichts zuschulden kommen lassen, weshalb wir von einer Bestrafung absehen.«
Lazarus waren vor Erleichterung die Knie weich geworden.
»Allerdings wirst du dich zur Buße auf eine Pilgerreise begeben, deren Ziel du selbst wählen kannst.«
Es war eine beinahe lächerliche Strafe, die Lazarus auf seinem Heimweg von Italien mühelos hinter sich gebracht hatte. Ein Brief an den Spitalmeister hatte diesem die Entscheidung des Ordens mitgeteilt, weshalb Lazarus ein zwar frostiger, aber nicht feindseliger Empfang bereitet worden war.
»Meinetwegen kann er seinen Posten gern zurückhaben«, hatte der alte Mönch gesagt, der in seiner Abwesenheit Lazarus’ Pflichten übernommen hatte. »Ich werde zu alt dafür.« Er hatte den Kopf geschüttelt und Lazarus mit seinen sanften Augen angesehen. »Das ist etwas für einen jüngeren