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war sein Doktorand und bester Schüler, und sie wollten über dessen Dissertation sprechen. Vor dem Krieg, als Radbruch noch in Heidelberg gelehrt hatte, hatte er eine Reihe von ebenso talentierten, vielleicht sogar talentierteren jungen Leuten gekannt. Mit zwei von ihnen stand er noch in Briefkontakt, von den anderen wusste er nicht einmal, ob sie den Krieg überlebt hatten. Jetzt war Valentin seine große Freude. Er schrieb über »Das Wesen der Strafe«.

      Sie saßen in Radbruchs Arbeitszimmer vor dem Panoramafenster mit Blick auf den Garten, zwischen ihnen ein riesiger Schreibtisch aus Mooreiche, übersät mit Folianten und Notizpapier. Nur eine kleine Fotografie, die ihn mit seinem guten Freund Karl Jaspers zeigte, fand dort noch Platz. Lydia Radbruch kam herein und servierte den Tee, was sie immer tat, wenn ihr Mann Besuch hatte, nicht aus einem traditionellen Rollenverständnis heraus, das hatten die Radbruchs überwunden, sondern weil sie eine gute Gastgeberin sein wollte. Im Gegenzug servierte der Professor den Tee, wenn seine Frau Besuch hatte, kam sich dabei aber trotz aller Emanzipation reichlich deplatziert vor und kassierte nicht selten ungläubige Blicke.

      Valentin hatte sich Notizen zu Kants »Metaphysik der Sitten« gemacht, Radbruch hatte sich mit Feuerbach und Liszt bewaffnet. Nun waren die Kontrahenten bereit, intellektuell aufeinander einzudreschen.

      »Nein, hören Sie auf mit diesem metaphysischen Firlefanz«, sagte der Professor und schleuderte Valentin eine abfällige Handbewegung entgegen, ganz gegen seine kontemplative, fast schon phlegmatische Natur. »Sühne und Läuterung, alles Unsinn. Strafe erfüllt nur einen Zweck: den potenziellen Täter von seiner Tat abzuhalten. Sicherung, Besserung und Abschreckung sind die Mittel dazu.«

      »Aber Kant sagt …« Valentin blätterte hektisch in der Metaphysik.

      »Mumpitz ist das«, erwiderte Radbruch. Es fiel ihm nicht leicht, so über Immanuel Kant zu sprechen. Denn er war Neukantianer und stand dazu. Aber wo Kant irrte, irrte selbst Kant. Und dass er irrte, war für Radbruch klar, und vielleicht aus Enttäuschung über sein großes Vorbild regte er sich immer auf, wenn es um Kants Straftheorie ging. »In einer Kulturgesellschaft gibt es nur ein Gut, das für sich selbst steht: der Mensch in seiner Würde. Alles andere hat einen Zweck, der auf dieses eine höchste Gut gerichtet ist. Strafe steht nicht für sich selbst, sie hat einen Zweck.«

      Valentin verstummte. Er schaute auf seinen Tee und rührte einen Löffel Zucker hinein. Für den Professor war das Frevel, Zucker im Tee. Valentin wusste das, und der Professor wusste, dass er das wusste.

      Nach einer Zeit nachdenklichen Umrührens ergriff der Doktorand wieder das Wort: »Und was ist mit dem Mörder, der erst Jahrzehnte nach seiner Tat überführt wird, wenn er uralt und gebrechlich ist? Einer, der körperlich nicht mehr in der Lage ist, jemanden zu töten? Der wird sicher nicht rückfällig, also bedarf er keiner Prävention. Wollen Sie den davonkommen lassen?«

      »Natürlich nicht. Zur Prävention gehört auch die Bestätigung von Verhaltensregeln durch Aburteilung von Verstößen. Die Gesellschaft muss in ihrem Unwerturteil bekräftigt werden. Auch das ist Prävention.«

      »Aber wenn allein Prävention eine Strafe rechtfertigt, dann könnte der Staat jeden wegsperren, der zu einer Straftat neigt, ohne dass er sie bereits begangen haben muss. Arme und Bedürftige müssten in Haft genommen werden, weil sie aus Not zum Diebstahl neigen, Jähzornige, weil sie zu Gewalttaten neigen.«

      »Prävention ist der Zweck der Strafe, Schuld ihre Voraussetzung, und ohne bereits begangene Straftat keine Schuld. Sonst würden Sie den Einzelnen zum Schutz der Gesellschaft, die auch aus ihm besteht, aufopfern. Das wäre ein Widerspruch in sich. Außerdem verletzte es die Würde des Einzelnen, weil er dann nur noch Objekt staatlichen Handelns und nicht mehr Träger von Rechten wäre.«

      »Aber Schuld ist doch ein metaphysischer Begriff.«

      »Schuld ist in erster Linie ein kultureller Begriff. Die Gesellschaft bestimmt, was verboten und was erlaubt ist, nicht der Liebe Gott.«

      Diese Gedanken waren nicht alt, nicht etabliert, sie hatten sich in den Köpfen der geistigen Eliten noch nicht festgesetzt, sie waren auch noch nicht bis ins Detail zu Ende gedacht. Und doch bildeten sie die notwendige Grundlage für einen demokratischen Rechtsstaat. Das war Radbruchs feste Überzeugung.

      »Aber wenn der Mensch bestimmt, was Schuld ist, dann bestimmt er auch, was Recht ist. Und das liefe auf Willkür hinaus.«

      Der Professor stand auf und schaute in den Garten, der noch weitgehend unbeeindruckt von dem sich ankündigenden Frühjahr vor sich hin schlief.

      »Nicht der Einzelne bestimmt das Recht, mein Junge, sondern die Gesellschaft, die in ihrer Kultur verhaftet ist. Und Kultur entwickelt sich. Große Künstler, Denker und Staatsleute können sie beeinflussen, aber niemand kann sie bestimmen. Deshalb war das Recht vor hundert Jahren anders, als es heute ist. Und in China ist es anders als hier.«

      Valentin kippte den Tee hinunter und ließ sich vom Professor nachschenken. Den Zucker rührte er nicht wieder an. Es war ihm offenbar ernst geworden.

      »Trotzdem«, murmelte er und blätterte nachdenklich in Kants Metaphysik, obwohl er kaum eine Chance hatte, darin Hilfe zu finden, um seine Zweifel zu beseitigen. »Führt denn Kultur immer zum Guten? Fühlt man sich nicht zwangsläufig schutzlos bei dem Gedanken, dass es kein ewiges Gesetz gibt?«

      »Zum ersten Mal fühlt ein Mensch sich schutzlos, wenn er erkennt, dass der Vater nicht der stärkste Mann auf Erden ist.«

      »Glauben Sie nicht an Gott, Herr Professor?«

      Die Gretchenfrage. Wie sollte Radbruch antworten? Er zog seine Pfeife aus der Westentasche, stopfte sie jedoch nicht und steckte sie nicht an, sondern roch fromm und andächtig ein Weilchen daran herum.

      »Wir sind erwachsen geworden. Gott gibt uns vielleicht Ratschläge, aber er macht uns keine Vorschriften mehr.«

      Zögerlich klappte Valentin die Metaphysik zu. »Aber der Moment, in dem ein Mörder zum Tode verurteilt wird«, sagte er leise. »In diesem Moment schweigen wir und wir machen keine Scherze mehr. Es ist ein heiliger Moment, der Moment der Läuterung, den wir auch dem Mörder schulden, damit er von der Last seiner bösen Tat befreit wird. Und Sie machen etwas ganz Profanes daraus, ein Mittel zum Zweck.«

      »Sie sind unbelehrbar, mein Junge.«

      »Sie auch, Herr Professor.«

      II

      Ein helles Leinentuch lag ausgebreitet auf dem Rasen, übersät mit feuchten Flecken, die die Umrisse eines Menschen nachzeichneten, dem Turiner Grabtuch nicht unähnlich. Und wie jenes bedeckte auch dieses eine Leiche, die Leiche eines jungen Fräuleins, die aus dem Kleinen Kiel gezogen worden war.

      Als Kommissar Rosenbaum eintraf, war sein Assistent gerade dabei, einen Schutzmann auszuschimpfen.

      »Was sind Sie nur für ein Trottel!«

      »Ich, ich …« Der Schupo ließ einen Lappen hinter seinem Rücken verschwinden, und vermutlich wäre er am liebsten gleich mitverschwunden.

      Kriminalassistent Klaus Gerlach tobte sich in einen Rausch. Ihm fielen immer wieder neue Schimpfworte ein, die er dem Uniformierten an den Kopf schleuderte, Worte, die Rosenbaum zum Teil gar nicht kannte, der Schupo wohl auch nicht, die Gerlach beim Kommiss gelernt haben musste, als er vier Jahre lang das Vaterland gegen die Russen und den Franzmann verteidigt hatte.

      Rosenbaum ging auf die beiden zu. »Hat er das Mädchen umgebracht?«, fragte er, als er, von

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