Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes
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Читать онлайн книгу Zeit verteilt auf alle Wunden - Birgit Jennerjahn-Hakenes страница 3
Er kniete sich nieder und öffnete den Karton. Da lag er. Sein Stoffaffe mit hellem Fell und roter Latzhose: Rudi. Ein Geruch nach Kindheit stieg auf, sommerschwer. In seiner Brust wurde es eng. Früher hatte er Rudi an sich gedrückt, wenn er seine Mutter zu sehr vermisste. Bis Großmutter ihn fortgenommen hatte. Jetzt war er wieder da. Endlich. Er nahm ihn an sich und drückte ihn an sein Herz. »Wie ich dich vermisst habe«, sagte er und fand es gar nicht albern, mit einem Stofftier zu reden. Er hielt ihn ganz fest, und da fiel es ihm auf: Das Büchlein, das er in seinen Rücken eingenäht hatte, war weg. Er war enttäuscht. Als hätte er sechs Richtige im Lotto und nun erfahren, dass es dieses Mal leider viel weniger Geld gab als sonst. Rudi wiederzuhaben, war enorm viel wert, Großmutter hatte ihm damit ein Stück glückliche Kindheit zurückgegeben. Bestimmt hatte sie ihm das Büchlein auch wiedergeben wollen. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, es sei noch da, wo er es damals versteckt hatte. »So ein Mist«, sagte er in den frühen Morgen hinein. Sogar die Naht, die er damals aufgetrennt hatte, um das Büchlein zu verstauen, war feinsäuberlich verschlossen. War Großmutter so gemein gewesen? Das glaubte er nicht. Es konnte nicht sein, dass sie ihre letzte Kraft dafür aufgewendet hatte, ihn in die Irre zu führen. Hatte ein anderer das Stofftier aufgetrennt und das Büchlein entfernt? Aber außer ihm und Großmutter gab es niemanden, den die darin enthaltenen Wort-Schätze interessiert hätten. Martin konnte es sich nur so erklären, dass Großmutters Atem nicht mehr ausgereicht hatte, um alles zu sagen. Vielleicht wusste sie auch nicht mehr, dass sie das Büchlein woandershin getan hatte. Schließlich war sie achtundneunzig Jahre alt geworden. Alles wäre vielleicht anders gekommen, wenn er über seinen Schatten gesprungen wäre und sie die letzten Jahre öfters besucht hätte. Martin hielt inne.
Das Lesen und Grübeln macht deine Mutter auch nicht wieder lebendig.
Er durchwühlte den Karton und hoffte, das Büchlein darin zu finden, aber da waren nur Kinderbücher. Und die Holzkugelbahn, die er so geliebt hatte. Stundenlang hatte er der Murmel zusehen können, wie sie die Kurven nahm, bis sie am Ende die Glocke auslöste. Darunter entdeckte er den Kassettenrekorder und ein paar Bänder. Er musste grinsen. Papa hatte immer den neuesten technischen Kram mitgebracht. Je länger er fort gewesen war, desto exklusiver wurden die Geschenke. »Du bist bestimmt das erste Kind im Dorf, das so etwas besitzt.«
Ob der Kassettenrekorder noch funktionierte? Martin runzelte die Stirn. Dann legte er alles zurück in den Karton und schloss ihn. Mit dem Affen in der Hand schritt er noch einmal alle Ecken des Speichers ab. Das Büchlein gab es wohl doch nicht mehr. Er schaute noch einmal in den Puppenwagen, nahm die Matratze hoch, aber auch da war nichts. Also klemmte er den Karton unter den Arm, steckte Rudi unter seine Steppjacke und stieg wieder hinab.
Großmutters Wohnzimmer wirkte jetzt, da sie nicht mehr zurückkommen würde, ganz anders als früher auf ihn. Früher hatte er sich an der hässlichen Einrichtung gestört, vor allem an dominierenden Balken, die in den Raum eingelassen waren, als könnten sie durch Fachwerkhausromantik etwas zur Gemütlichkeit beitragen. Die klassische Schrankwand in nussbraun, die Stehlampe mit dem Schirm in giftgrün, der sich von der dunkelgrünen Couchgarnitur abhob, der Couchtisch – ebenfalls dunkelbraun, mit fetten kurzen Tischbeinen, deren Füße ihn an Pferdehufe erinnerten –, all das war noch immer hässlich, aber auf einmal missfiel es ihm nicht mehr. Jetzt sah er vor seinem inneren Auge nur, was nicht mehr da war. Seine Mutter, die zusammen mit Großmutter eine der Samstagabend-Shows im Fernsehen sah und durch ihr Lachen das Schwarz-Weiß-Fernsehen verbuntete. Verbunten, Martin, da hast du wieder ein tolles Wort erfunden.
Martin stellte den Karton auf dem Fußboden ab, nahm den Rekorder heraus und platzierte ihn auf dem Beistelltisch neben dem Fernsehsessel, zog den Stecker der Stehlampe und stöpselte das Gerät ein. Er wollte nur einmal kurz hineinhören und dann in die Schule fahren. Er zog seine Steppjacke aus, dann drückte er den Knopf für Wiedergabe und machte es sich mit Rudi auf dem Schoß im Sessel bequem. Es rauschte im Gerät. Martin setzte Rudi auf die Sessellehne, stoppte den Rekorder und nahm das Band heraus. Es war gerissen. Aus dem Karton fischte er fünf weitere Bänder. Er überprüfte sie, indem er den kleinen Finger in die Spule steckte und drehte, wie früher, wenn es Bandsalat gegeben hatte. Vier Bänder rissen sofort durch. Das fünfte hielt, er legte es ohne große Hoffnung ein. Da hörte er eine weibliche Stimme. Es war die seiner Mutter.
Hallo Martin, hier spricht Mama …
Er wusste nicht, wie lange er im Sessel verharrt hatte, als es klingelte. Erschrocken schaute er auf die Uhr, die halb acht zeigte. War er etwa eingeschlafen? In der Tür stand Agnes Wondra, die Nachbarin.
»Martin«, sagte sie.
Die Verrückte, wie sie im Dorf genannt wurde, dachte Martin und blieb stumm.
»Irmgard, ist sie …?«
Er nickte.
Frau Wondra nahm seine Hand, sah in die Innenfläche und sagte: »Der Apfel hält sich fest am Stamm.«
Ein Blitz erschreckte Martin, er trat auf die Bremse, hinter ihm hupte jemand. War er bei Rot über eine Ampel gefahren? Er hielt am Straßenrand und sah im Rückspiegel einige langsam fahrende Autos, aber keine Ampel. Mist, das war eine Dreißigerzone. Wie schnell war er gewesen? Mindestens doppelte Geschwindigkeit, schätzte er. Ab wann war der Führerschein weg? Dann müsste er mit der Straßenbahn zur Schule fahren. Eine furchtbare Vorstellung! Er reihte sich wieder in den Berufsverkehr ein. Es war viel mehr los als sonst, normalerweise war er ja auch viel früher unterwegs. Nicht einmal einen Kaffee hatte er gehabt. Er warf einen Blick nach hinten und fluchte. Die Unterlagen für den Deutschkurs lagen nicht auf der Rückbank, sie lagen zu Hause. Aussichtslos, jetzt noch einmal umzukehren. Das erste Mal würde er nicht pünktlich vor seiner Klasse stehen.
Er kurbelte das Fenster herunter, es ging schwerfällig wie immer. Sein Auto war eben keines, bei dem alles per Knopfdruck funktionierte. Manchmal sah er nicht ein, Dinge zu ersetzen, die funktionierten. Ich mag Dinge, die bleiben, hatte er kürzlich in einem Roman gelesen. Mit so einem Satz identifizierte er sich gern. Wieder hupte jemand. Die Stadt war unerträglich laut.
Die wenigen Parkplätze direkt vor dem Schulgebäude waren belegt, erst ein paar Straßen weiter tat sich eine Lücke auf. Martin parkte ein und stieg aus. Die kalte Luft tat ihm gut, sie verschaffte ihm einen klaren Kopf. Langsamer als sonst ging er auf den Eingang des Schulgebäudes zu, langsamer denn je stieg er die zweimal achtzehn Treppenstufen hinauf in den zweiten Stock.
Gedankenverloren stand er vor der Klassenzimmertür, sammelte sich und trat ein.
»Guten Morgen, entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte er und wich den Blicken seiner Schüler aus. Er schnappte sich die Kreide und schrieb nach kurzem Überlegen Alliteration an die Tafel. Er wusste, dass es zu wenig war, aber mehr fiel ihm nicht ein. Immerhin ein Anfang. Hoffentlich war der Tag bald zu Ende.
»Kann mir jemand ein Beispiel für eine Alliteration nennen?«, fragte er.
Hendrik meldete sich. Auf ihn war Verlass. Martin bedeutete ihm zu sprechen.
»Warum machen wir nicht mit der Abilektüre weiter?«, fragte er.
»Alliterationen