Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes

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Zeit verteilt auf alle Wunden - Birgit Jennerjahn-Hakenes

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aber Sie wollten uns heute die restlichen Unterlagen aushändigen, die wir fürs Schriftliche brauchen.«

      »Montag.«

      »Es ist aber nicht mehr lange bis …«

      »Ich sagte: Montag.«

      Es tat Martin leid, gerade Hendrik abkanzeln zu müssen. Er wusste, der Junge war ebenso an schönen Worten interessiert wie er. Zu Recht war er Anwärter auf den diesjährigen Scheffelpreis.

      Martin schrieb toter Tag unter Alliteration und unterstrich die beiden Anfangs-T. Gemurmel. Toter Tag. Es war ihm völlig klar, wie er darauf gekommen war, dennoch haute ihn die Wucht dieser Worte nun um. Als sei ihm gerade eben erst bewusst geworden, dass viele tote Tage hinter ihm lagen. Aufgewühlt unterstrich er die zwei T erneut und entlockte der Kreide ein hässliches Quietschgeräusch.

      »Müssen Sie ausgerechnet so blöde Wörter nehmen?«, fragte Charlotte. Martin drehte sich zu ihr um. »Dann geben Sie mir gerne ein anderes Beispiel für eine Alliteration.«

      »Tolle Tasche?«

      Martin schrieb es nicht an. Tote Tage tragen tolle Taschen kam ihm in den Sinn, aber er schrieb auch das nicht an.

      »Fantastische Freistunde«, rief Sebastian.

      »Picklige Pia«, kam es aus Toms Mund.

      »Blöder Blödmann«, sagte Mira.

      Martin sah seine Schüler an. Sie saßen in Hufeisenform. Auf einmal kam er sich regelrecht umkreist vor. Er sah in lachende Gesichter, sah Jugend und fühlte sich fehl am Platz. Wie hatte seine Mutter das gemacht? Wie hatte sie sich dabei wohlfühlen können?

      »Fischers Fritz fischt frische Fische, ist auch eine Alliteration, oder?«, fragte Charlotte.

      Wortlos wandte sich Martin wieder der Tafel zu und schrieb alberne Alliterationen hin. Er ging einen Schritt zurück und las für sich die Worte toter Tag und alberne Alliterationen. Was er hier machte, das taugte doch nichts. Die Schüler lachten und wetteiferten um die witzigsten Alliterationen.

      So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er vor vielen Jahren vor seiner ersten eigenen Klasse gestanden hatte. Er hatte sie für Sprache begeistern wollen wie kleine Kinder für Märchen. Nun starrte er auf das Untergrundgrün der Tafel. Die Farbe der Hoffnung. Er hatte keine mehr.

      »Herr Wachs, stimmt was nicht?«

      »Ruhe, verdammt noch mal. Können Sie nicht einmal ruhig sein?« Er schmiss den Kreidestumpen an die Tafel.

      Und dann war die Klasse ruhig. Endlich.

      Martin hörte die Stimme auf dem Kassettenrekorder. Eine Stimme. Seine Mutter. So fröhlich und vor allem so lebendig.

       Hallo Martin, hier spricht Mama.

      Vor gerade mal drei Stunden hatte er am Bett seiner sterbenden Großmutter gesessen und sollte jetzt fortfahren mit seiner Arbeit, die nur noch Routine war, dem Lehrplan entsprechend, ohne Herzblut, wie es in den Anfängen in seinen Adern pulsiert hatte. Als sei Idealismus eine Krankheit, von der man im Alter geheilt wurde.

      »Herr Wachs, ist Ihnen nicht gut? Sollen wir jemanden holen?«

      Jemanden holen? Wieso? Er musste hier raus. Die Tür war in greifbarer Nähe. Aber dieser verdammte Gong tat seinen Dienst nicht. Dieses Klassenzimmer war ein Gefängnis. Das ganze Schulgebäude. Seit Jahren ließ er sich hier festhalten. Er musste hier raus. Raus, raus, raus. In ein paar Minuten würde der Gong ihn hoffentlich erlösen. Er kannte das doch. Auf den Pausengong war Verlass.

      »Herr Wachs, weinen Sie?«

       Weinen? Er? Nein. Nur ein Staubschauer.

      Zweites Kapitel

       Abtauchen und Abschalten

      Am nächsten Tag erwachte er mit fürchterlichen Kopfschmerzen und fühlte sich kraftlos. Alles in ihm sträubte sich dagegen, aufzustehen. Er starrte an die Decke, stieß einen Fluch aus und schloss die Augen wieder. So musste es Menschen gehen, die an Migräne litten. Weil seine Blase so prall gefüllt war, dass Ignorieren sinnlos war, musste er seinen Körper schließlich doch in die Senkrechte befehlen und war irritiert, weil er sich von keiner Zudecke befreien musste. Offensichtlich hatte er in Kleidern geschlafen. Sein Schädel thronte auf ihm wie ein mit Blei gefüllter Hut. Tat das weh! Vor ihm auf einem hässlichen Couchtisch erkannte er mindestens sieben Bierflaschen und angefangenen Wodka. Hatte er das alles getrunken? Seit wann trank er so viel Bier, seit wann trank er Wodka? Immerhin verstand er, dass er nicht zu Hause war. Das war nicht sein Bett, aus dem er zu steigen versuchte, das war eine hässliche Couchgarnitur, in einem Grün, das zwar mit dem Schirm der Stehlampe harmonierte, aber deshalb nicht weniger giftig daherkam. Er erhob sich mühsam, und schlagartig wurde ihm so übel, dass er kurzfristig überlegte, im Sitzen in eine der Bierflaschen zu pinkeln. Jetzt reiß dich zusammen, befahl er sich und tat einen Schritt am Tisch vorbei. Das Orientieren strengte ihn so sehr an, dass es die Übelkeit für einen Moment in die zweite Reihe stellte. Endlich ging ihm auf, wo er war: in Großmutters Haus. Die braunen Balken, die er nie hatte leiden können, boten ihm nun Halt. Er schaffte es zur Toilette im Flur.

      Während sich seine Blase entleerte, füllte sein Gehirn sich mit Erinnerungsfetzen. Er las sie wie die Überschriften in der Boulevardpresse: Lehrer versagt im Unterricht und schmeißt mit Kreide.

      Inzwischen war die Blase leer, und die Fetzen hatten ein Bild ergeben. Martin erinnerte sich, fluchtartig das Klassenzimmer verlassen zu haben, mit einer irritierten Kollegin auf dem Gang zusammengestoßen zu sein, sah sich durchs Dorf seiner Kindheit rasen und das Haus seiner Großmutter, in dem er aufgewachsen war, betreten.

      Er spülte, schloss die Tür zur Toilette und ging zurück ins Wohnzimmer. Unbedingt musste er sich wieder hinlegen. Wie spät war es eigentlich? Stand sein Smartphone auf stumm? Nicht, dass die Schulsekretärin Frau Schlott ihn ermahnte, zum Unterricht zu kommen. Die treue Seele. Er langte in die Gesäßtasche, holte das Smartphone hervor und schaute nach. Kein Anruf, obwohl es schon zehn Uhr am Morgen war. Martin sah noch einmal auf sein Smartphone: Samstag, 19. März. Samstag! Unterrichtsfrei. Nicht in die Schule fahren zu müssen, sich nicht in seinem furchtbaren Zustand vor die Klasse stellen zu müssen, ließ ihn laut aufatmen.

      Er stand noch einmal auf und kramte in Großmutters Küchenschubladen, wo er eine Reihe Tabletten fand, darunter auch welche gegen Kopfschmerzen. Vorsichtshalber nahm er gleich zwei, ließ anschließend die Rollläden herunter und legte sich nochmals hin. Nach einer Weile schlief er wieder ein.

      Am frühen Nachmittag wurde er zum zweiten Mal wach. Durst. Einen ganzen Pool hätte er austrinken können. Aber Großmutter hatte kein Mineralwasser im Haus. Wie alt war das Bier, das er getrunken hatte? Wurde Bier schlecht? Martin hängte seinen Kopf unter den Wasserhahn der Küchenspüle und trank. Schluckte auf eine Art, dass er es selbst hörte. Es klang wie ugg ugg, dumpf und verlangend. Anschließend gönnte er seinem Gesicht mehrere Hände voll kaltem Wasser. Danach ging es ihm besser. Er sah sich in der Küche um, in deren Mitte der helle Holztisch prangte, an dem er als Kind oft gesessen und viel gelacht hatte. Er fühlte sich eingeladen und nahm Platz. Automatisch wählte er den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, als seine Mutter noch lebte. Von hier aus konnte er rechts aus dem Fenster auf die beiden Apfelbäume und links in den angrenzenden Wohnraum sehen, der durch eine Flügeltür von der Küche getrennt war. Als Kind fand Martin dieses Wort so

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