Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes

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Zeit verteilt auf alle Wunden - Birgit Jennerjahn-Hakenes

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mit dem Rücken zur Tür sitzen, das war noch heute so. Wann hatte er das letzte Mal hier gesessen? Es sah alles so unverändert aus. Alt. Vergangen. Nicht wieder herstellbar. Das Lachen seiner Mutter, die ihm jeden Mittag gegenübergesessen hatte.

       Spielst du eine Partie Schach mit mir?

       Essen ist gleich fertig.

       Bitte, bitte, Mama, eine Partie schaffen wir noch.

       Stimmt, du setzt mich sowieso wieder in Nullkommanichts schachmatt.

      Am Wochenbeginn saß er um 6:56 Uhr am Bettrand und starrte sein Smartphone an. Normalerweise betrat er um diese Uhrzeit das Schulgebäude und trank dann mit der Schulsekretärin, Frau Schlott, einen kleinen Kaffee. Aber heute nicht. Er wollte sich krankmelden, er brauchte unbedingt wenigstens einen freien Tag, um sich zu sortieren. So ein Patzer wie Freitag sollte ihm nicht noch einmal passieren. Er musste jetzt anrufen, da führte kein Weg daran vorbei. Er räusperte sich und wählte die Nummer des Sekretariats.

      »Wachs hier, ich bin krank.«

      »Sie?«, fragte Frau Schlott.

      Martin sah sie vor sich, wie ihr der Mund offenstand.

      »Ja, ich.«

      »Aber nicht lange, oder?«

      »Diese Woche«, sagte er schnell, um es hinter sich zu bringen und kam sich vor wie ein Betrüger. Jetzt hatte er sogar diese Woche gesagt anstatt Heute.

      »Ja, dann gute Besserung und ein paar schöne Ferientage«, sagte Frau Schlott und legte auf.

      Martin dachte, sich verhört zu haben, dann dämmerte ihm, dass Ostern vor der Tür stand. Das bedeutete noch mehr unterrichtsfreie Zeit. Er atmete auf und ging ins Bad.

      Den Rasierer schon in der Hand, entschied er sich anders und legte ihn wieder weg. Aus irgendeinem Grund hatte er heute keine Lust, sich zu rasieren. Schließlich ging er nach einer für ihn sehr kurzen Morgentoilette in seinem Schlaf-T-Shirt und Boxershorts die Treppen seiner Maisonettewohnung hinunter in die Küche.

      Als er die elektrische Kaffeemühle anstellte, erschrak er. War sie schon immer so laut gewesen? Was war nur los mit ihm? Sein Herz stolperte, und das war sehr unangenehm. Er stellte die Mühle wieder aus und suchte im Hängeschrank nach beruhigendem Tee. Als er keinen fand, nahm er einen Schluck Leitungswasser. Ein Blick auf den Wandkalender sagte ihm, dass er nun zwei Wochen frei hatte. Frei. Es war ihm mit einem Mal alles zu eng hier, er hatte das Gefühl, an die frische Luft zu müssen, um atmen zu können. Durchatmen. Er öffnete die Haustür und trat in den Laubengang hinaus. Ein angenehmes Kribbeln durchströmte ihn, gleichzeitig taktierte es seinen Herzschlag. Laut Wettervorhersage sollten heute zwanzig Grad erreicht werden, zwölf Grad mehr als gestern. Martin bekam Lust auf einen Waldspaziergang. Und das an einem Montag, zudem angeblich krank? Sollte er? Der Wald lag unweit seiner Wohnung, er musste nur ein paar Straßen überqueren, schon war er im Schlosspark, dahinter begann das Waldgebiet. Es war unwahrscheinlich, dass er auf dem Weg jemanden traf, der ihn fragte, warum er nicht arbeitete, aber Martin wollte auf Nummer sicher gehen und entschied sich für einen anderen Wald, den am Rand des Dorfes seiner Kindheit.

      Unterwegs hielt er bei einem Bäcker, kaufte zwei Croissants und nahm auch einen Coffee to go mit. »Den trinke ich im Gehen«, sagte er zur Verkäuferin, die ihn verständnislos ansah. Aber er trank den Kaffee schon während der viertelstündigen Autofahrt aus und bereute, dass er nicht auch noch eine Flasche Wasser mitgenommen hatte. Wo kam nur dieser Durst her?

      Er streifte das Dorf und parkte am Waldrand, schnappte sich die Bäckertüte vom Beifahrersitz und lief los. Sonnenstrahlen drängten sich zwischen Kiefern und Laubbäumen hindurch. Ein paar Meter lief er über den breiten Kiesweg, den für gewöhnlich die meisten Spaziergänger nutzten. Dann sah er eine Abzweigung, die ihm bekannt vorkam, und er bog ein. Das war der schmale Pfad, den er schon als Kind so gerne gelaufen war. Am Ende ging es leicht bergauf durch einen dichten Nadelwald. Hier hatten sie als Kinder Hütten gebaut und sich gegen imaginäre Räuber verteidigt.

      Obwohl es nur ein kleiner Anstieg war und den Namen Berg kaum verdiente, kam er aus der Puste. Früher bin ich hier hochgerannt, dachte er.

      Er stieß auf eine Lichtung, in deren Mitte ein Baumstamm ihn einlud, sich hier auszuruhen. Ein guter Ort, die Croissants zu genießen, dachte er. Er war umgeben von einer Stille, die nur von sich einander zurufenden Meisen unterbrochen wurde, was ihn ebensowenig störte, wie das Klopfen des Spechts. Stille und Waldgeräusche ergaben in der Summe immer noch eine Ruhe, die er aus der Stadt nicht kannte. Die Sonne leuchtete dieses wunderbare Fleckchen Erde aus und wärmte ihn. Er atmete tief durch und langte in die Bäckertüte. Das Rascheln des Papiers störte ihn. Es passte nicht hierher. Passe ich noch hierher, schoss es ihm durch den Kopf. Er konnte den Denkvorgang nicht stoppen – Passe ich wieder hierher? Sein Herz antwortete mit Stolpern. Martin ignorierte es, er wollte die Croissants genießen und biss hinein, verschlang schließlich beide und bekam Bauchschmerzen. Hätte ich sie bloß nicht so schnell gegessen, dachte er. Und dann merkte er, dass er dringend eine Toilette brauchte. Er wollte nicht mitten in den Wald … wie ein Hund … Er sah nur eine Möglichkeit, Großmutters Haus, und eilte zum Auto.

      Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit schloss er das Haus seiner Großmutter auf. Er war noch nicht eingetreten, da rief Agnes Wondra aus dem Fenster nebenan: »Martin, du bist zurück!«

      Er hatte Bauchkrämpfe, verharrte aber vor der Tür und sah nach oben. »Ich kann jetzt nicht«, presste er hervor. Ein bisschen kam er sich vor wie ein verlorener Sohn von Frau Wondra, die kinderlos geblieben war und sich seit der vierten Fehlgeburt vor vielen Jahren schwarz kleidete.

      »Die Zeit verteilt auf alle Wunden.«

      Martin winkte ihr, lief hinein und stürzte zur Toilette. Er dachte über Frau Wondra und ihr Schicksal nach. Vier nie geborene Kinder. Er hielt sie nicht für verrückt, das hatte er nie getan. Schon komisch, was sich die Menschen manchmal zusammenreimten. Was dachten sie in der Schule nun über ihn, nachdem er sich krank gemeldet hatte? Rechtfertigen würde er sich jedenfalls nicht. Er allein wusste, was er in seinem Beruf schon geleistet hatte. Er allein wusste, wie engagiert er die ersten Jahre unterrichtet und gegen starre Lehrpläne angekämpft hatte. Von Ferien zu Ferien, die nur immer einen Aufschub boten, ein Hinauszögern dessen bedeuteten, was unvermeidlich war: sich als Lehrer der Aufgabe zu stellen, Sprache zu unterrichten. Dabei lag es gar nicht an seinen Fächern Englisch und Deutsch. Vor allem Letzteres liebte er. Die Idee der Schriftstellerei, die seine Mutter neben ihrem Dasein als Deutschlehrerin verfolgt hatte, war so gar nichts für ihn. Er hatte nur ein ähnlich gutes Sprachverständnis wie seine Mutter und hatte es ihr nach ihrem Tod gleichtun wollen, indem er sein Talent als Lehrer weitergab.

      Inzwischen war er vom Flur ins Wohnzimmer gegangen, sah die leeren Bierflaschen auf dem Couchtisch und erinnerte sich an den Tag zuvor. Er hatte nach dem Büchlein gesucht. Zuletzt im Keller, wo er die Bierkiste gefunden hatte. Und weil das Büchlein nirgends zu finden gewesen war, hatte er sich ein Bier genommen. Und dann noch eins und noch eins und noch eins.

      Martin räumte die Bierflaschen zurück in den Keller, leerte die Wodkaflasche in der Küchenspüle aus und stellte sie in den Flur für den Glasmüll. Dann riss er die Gardinen im Wohnzimmer auf, um Licht hereinzulassen. Staubkörnchen wirbelten durch die Luft als tanzten sie den Tanz der Freiheit. Vor Martin lag der Blick auf die Terrasse und den angrenzenden Garten. Hier musste man dringend Hand anlegen, wollte man – ja was, fragte er sich. Das Haus verkaufen und mit dem Erlös auf Weltreise gehen? Wenn es ihm überhaupt in die Hände fiel. Wen Großmutter wohl im Testament bedacht hatte? Aber selbst, wenn er zu einen Batzen Geld käme – nein,

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