Der Wal. Ally Klein
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Ally Klein
DER WAL
Roman
Literaturverlag Droschl
»Du sagtest, dass du niemals über reale
Menschen schreibst, nicht wahr? Vielleicht
werde auch ich weniger real, wenn du über
mich schreibst.«
– Karl Ristikivi, »Die Nacht der Seelen«
»Sicher, real ist nur einer von uns.«
– Kōbō Abe, »Der Schachtelmann«
Saul
Das wird Saul gesehen haben
Die braunen Blätter, gerippte verdorrte Röllchen, umringten die Buche. Im Wind rotierten sie um den Baum, mit jedem Zug trug er sie davon, vertrieb sie von ihrer Ruhestelle, verrückte den Ort, den die Erdanziehung ihnen in diesem lebensverneinenden Winter zugewiesen hatte, den Ort, an dem sie ihre letzte Stätte hätten finden sollen, aber der Wind gewährte ihnen diese Ruhe nicht, gönnte ihnen ihren reglosen Tod nicht, den langsamen Übergang zu Aas, die stete Verwesung zu Humus. Jedes Mal blies er sie hoch und ließ sie wieder an einer anderen Stelle langsam absinken. Sie kreisten in der Luft, lebensleer und teilnahmslos, und sobald der Wind sich weiter nach oben verzog und sich auf die lichte Krone stürzte, ließen sie sich ihren nächsten Fleck vom Zufall zuteilen.
Der Wind geisterte durch die Leere zwischen den Ästen, so dick und schwer, dass sie seinen Stößen nicht nachgaben, riss das eine oder andere verbliebene Blatt ab, das seit Monaten ausgetrocknet an einem Härchen hing und bloß auf gut Glück am Baum haftete, und trug es mit einem Zug fort.
Es wurde kurz still, aber schon regte sich etwas. In dem Laubhaufen raschelte es, wühlte sich etwas nach oben, aus den Schichten an toten Blättern, aus den birnförmigen Blättergewinden schlüpften Spatzen hervor, hüpften aus den trompetenartigen Gehäusen, zwei, drei, vermehrten sich in Sekundenschnelle, aus den braunen, trockenen Hülsen sprangen braune, quirlige Vögel hervor, sprangen auf der Wiese umher, alle in verschiedene Richtungen, manche flogen davon.
Die Bank war morsch vom feuchten Winter. Das aufgeweichte Holz löste sich ab, sobald man seinen Rücken dagegen lehnte, und die Splitter verfingen sich im Gewebe der Kleidung. Der Lack hatte sich längst abgeschrubbt, nur an den Außenseiten der Bank sah man noch, dass sie einst grün gestrichen war. Der Abstand zwischen den einzelnen Brettern war immer breiter geworden, die Bank magerte sich ab, vergreiste, stöhnte unter eines Gewicht.
Kaum hatte Saul sich hingesetzt, drang die klamme Kälte im Nu durch seine Hose. Er packte sein Brot aus, ein zwischen zwei Scheiben eingequetschtes dickes Stück Käse, das einen säuerlichen Geruch ausstieß, hielt es mit beiden Händen zwischen den kantigen, aufgerissenen Fingern vor sein Gesicht, zwischen den hornhäutigen Kuppen, zu denen kein Gefühl, kein Gefühl der Welt vordrang, er umfasste den Pumpernickel in einer klauenartigen Geste, lehnte sich nach vorne, fuhr sich die Schnitte vor den Mund und biss hinein. Eine große, parabelartige Leerstelle zeichnete sich ab, Saul kaute schweigend vor sich hin, sein Unterkiefer malmte das Brot breiig, er hielt inne und schluckte es in einem Brocken hinunter.
Gerade als er das Essen wieder an seinen Mund fuhr, fixierten sie ihn – zwei gelbe Augen mit einem senkrechten schwarzen Schlitz in der Mitte. Er erwischte sie, noch bevor er wieder hineinbeißen konnte. Mit offenem Mund, im Biss verharrt, stierte er zurück, auf das rote Tier, das sich leise an ihn herangepirscht haben musste, stierte angestrengt mit seinen runden schwarzen Pupillen in diese schmalen Spalte, wie in Bernstein gemeißelt, Portale in den Kopf einer fremden Wahrnehmung, einer unbekannten Welt. Saul versuchte hineinzusehen, sein Gegenüber zu lesen, den nächsten Schritt vorherzusehen, so lange, bis er die Anstrengung nicht aufrechterhalten konnte. Die eigenen Gesichtszüge lockerten sich endlich, eine Ruhe breitete sich über sein Gesicht aus. Er blickte und hörte auf zu sehen, er blickte und sah nicht mehr, schaute bloß, schaute vor sich hin, schaute selbstvergessen, schaute vergessen in die Augen des anderen, bis sich dieser zu einem ersten Schritt traute. Das rotfellige Tier trat vorsichtig näher, die rechte Vorderpfote veranlasste die anderen dazu, ihrem Schritt zu folgen, ein Stück dichter an Saul heran, den Kopf leicht gebückt, die schwarze ledrige Nase schnüffelnd, blieb stehen, die Blicke beider hafteten noch aufeinander. Saul öffnete langsam die Brotscheiben, löste das dicke Stück Käse heraus und warf es dem Tier vors Maul. Der scharfe Geruch strömte nach oben. Davon wie angezogen, senkte der Fuchs den Kopf, zögernd, die Augen immer noch auf Sauls geheftet, senkte ihn immer tiefer, schnupperte an dem stinkenden Brocken, hielt inne, blickte hinauf, dann schnappte er sich den Käse und schoss davon.
Saul, wieder alleine, legte die zwei Scheiben zusammen und biss in das trockene Brot.
Seit der Morgendämmerung hatte der Himmel die betongraue Farbe nicht abgelegt. Die Wolkenmasse war wie in Zement erstarrt. Überhaupt erinnerte der Tag seit Monaten daran, dass er bloß ein kurzer Übergang von einer Nacht zur anderen war, er war auf ein paar schummrige Stunden zusammengeschrumpft, ein knapper Zeitraum in düsterem Grau zwischen vorherrschender Dunkelheit, ein Bindeglied der Finsternis, mehr war er nicht.
Saul stand im Türrahmen und sah nach draußen. Die Wolken hingen diesmal tiefer über dem Flachland als sonst. Wie vollgestopfte Säcke, klobig und unbeweglich, bedeckten sie den Himmel, und, kaum setzte er zum Schritt an, kaum war er dabei, über die Schwelle zu treten, brach der Regen herab.
In Pfeilen beschoss er die Ortschaft. Bleierne Schäfte aus Wasser stürzten sich hinunter, stürzten sich auf die Siedlung, stürzten sich auf die Straßen, die Dächer, stürzten sich auf alle Oberflächen und zerbarsten daran. Sie zerbarsten am Asphalt, zerbarsten an Ziegeln, zerbarsten am Beton, zerschossen in tausende Spritzer, in winzigen Wasserschutt, flossen zusammen und wuchsen vereint zu einer riesigen Lawine. In einer rasenden Flut strömte das Wasser die Abhänge hinunter, riss alles mit sich, was seiner Gewalt nachgab, alles der Ortschaft Aufgetragene, alles Lose, alles, was sie schmücken sollte, jede Kreidezeichnung spülte es weg, die Lichtgirlanden, die der Regen zuvor von den Dächern, den Balkonen abgeklopft, abgeschlagen hatte. Alles, was der Mensch in seiner Vergesslichkeit, in seiner Ignoranz übrig gelassen hatte – jede Plastiktüte, jeden Zigarettenstummel, jedes Müllpartikel riss die Flut mit sich, das Wasser wallte durch die Straßen, schoss um die Ecke, keine Gasse war davor sicher, alles spülte es fort, alles war ihm ausgeliefert, es hatte über alles Dingliche, alles Körperliche, alles Atmende, alles Kriechende, alles Kämpfende triumphiert, nur Wasserfluten, überall.
Saul ahnte, was in der Ortschaft vor sich ging. Er musste ahnen, dass, wenn er sich jetzt auf den Nachhauseweg machte, den Wal verließe und in die Ortsmitte hinabstiege, ihm das Wasser dort bis zu den Fußknöcheln reichte. Er musste wissen, dass er im Nu nass würde, bis zu seinem Haus müsste er mindestens eine halbe Stunde laufen, quer durch die Siedlung. Er blieb im Türrahmen stehen und blickte hinaus. Fahle, grobkörnige Masse breitete sich vor ihm aus, stufte sich am Horizont in ein trüberes Dunkel ab und wurde über die Felder zu einem mörtelen Grau.
Er hob seine Hand an, streckte sie nach vorn aus, mit der Fläche nach oben – die dicken Regentropfen klatschten auf seine geschwollenen Fingerkuppen. Er wischte das Wasser an der Hose ab, steckte die Hand in die Jackentasche, nestelte dort herum und fischte eine Zigarettenpackung heraus. Saul klopfte auf den Boden, sodass aus der Öffnung eine Zigarette herausrutschte, er steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie an, zog – ein seimiger, weißer Rauch strudelte sich in seinem Mund zusammen, verschwand sogleich im schwarzen Rachen. Die Lungen bleichten den bläulichen Dunst, nahmen ihm die Essenz, und entseelt verließ der Rauch wieder seinen Mund. Die Glut fraß den Stängel