Der Wal. Ally Klein

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Der Wal - Ally Klein

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style="font-size:15px;">      Durch die Scheibe sah man den Barista, mit einer langen grünen Schürze bekleidet, die Stühle aufstellen. Kaum hatte Saul die Tür aufgestoßen, klingelte es über ihren Köpfen, das erste Geräusch, seitdem sie das menschenlose Schweigen des Waldes hinter sich gelassen hatten. Sie blickten beide automatisch nach oben, Saul gerade noch über die Schwelle getreten, sie direkt hinter ihm. Der metallene Durchgangsmelder hatte die Stille kaputtgeschrillt und war kurz darauf wieder verstummt, sobald er seinen Zweck erfüllt hatte. Der Barista sah sie an, ein hoher Hocker noch in seinen Händen, hielt inne und ließ ihn langsam hinunter, ohne den Blick von seinen ersten Gästen zu lösen.

      Saul räusperte sich. Der erste Versuch, sich einen Kaffee zu bestellen, ging daneben, die Stimme versagte im ersten Moment. Nachdem er sich für einen Schwarzen ohne alles entschieden hatte, drehte er sich fragend zu ihr, aber sie erwiderte nichts, musterte bloß die Wände des Cafés. Saul wandte sich wieder zum Barista um und hob zwei Finger nach oben.

      Einen Berg Zucker und drei Behälter Kaffeesahne kippte sie in die pechschwarze Flüssigkeit. Beige Schwalle wölkten auf und verfärbten den Kaffee hellbraun, die Tasse füllte sich bis an den Rand, büßte ihre Hitze ein. In kleinen Schritten und ohne das Behältnis aus dem Blick zu lassen, trug sie es mit beiden Händen hinaus, während Saul ihr die Tür aufhielt. Der Durchgangsmelder klingelte wieder, aber sie lief unbeeindruckt die zwei Stufen hinab und peilte einen der Stehtische draußen an. Saul beobachtete stillschweigend das Geschehen und folgte ihr letztendlich, nachdem sie ihren Kaffee abgestellt hatte.

      Sie schlürfte beim Trinken, obwohl die Flüssigkeit nicht heiß war. Irgendwann, bei der Hälfte, kramte sie aus ihrer Manteltasche Rauchzeug hervor, drehte sich eine Zigarette und schob den Haufen zu Saul hinüber, ohne ihn auch nur anzusehen. Während er seine Zigarette vorbereitete, hatte sie sich ihre angezündet, rauchte sie im Stillen, bevor sie vom Klopfen an der Fensterscheibe unterbrochen wurde. Beide drehten sie den Kopf nach hinten, der Barista rieb zwei Finger an den Daumen, Saul legte die Zigarette an den Tischrand, holte seinen Geldbeutel aus der Innentasche und ging ins Café.

      Er zahlte, gab großzügig Trinkgeld und, als er an der Theke stehend nach draußen sah, hatte sich seine Vorahnung, die sich leise beim Betreten angekündigt hatte, bestätigt: Auf den weißen Stehtischen standen zwei Tassen, und es wartete auf ihn – niemand.

      5.

      Er rutschte beinahe aus, als er den Hügel hinunterlief. Der Kies, den man vor Monaten auf den Asphalt geschüttet hatte, um dem Glatteis entgegenzuwirken, bedeckte noch spärlich die Straße und stellte eine neue Gefahr dar, vor allem wenn die Füße wie von selbst den Abhang hinuntermarschierten. Saul fing sich zwar, aber lief von da an mit einer anderen Aufmerksamkeit, auch wenn er die Geschwindigkeit seines Gangs kaum kontrollieren konnte. Je weiter er nach unten kam, desto schneller bewegten sich die Füße voran, in unaufhaltsamen Schritten stieg er hinab und näherte sich der Ortsmitte. Kaum war er unten, verlangsamte er seinen Marsch, die Steinchen rollten unter ihm davon, er hörte ihr sachtes Aufschlagen auf den Straßenbelag. Bald waren auch die letzten unter ihnen zum Erliegen gekommen, und ganz plötzlich wurde es still um ihn.

      Erst als er an die Tür herantrat, wurden Geräusche hörbar – dumpfe Stimmen, Klirren der Gläser. Er legte seine Hand auf das Holz, spürte die seichten Rillen, die sich darauf wie dürre Adern entlangzogen, drückte dagegen, aber es geschah nichts. Die Feuchtigkeit, seit Wochen in der Luft, hatte sich ins Holz eingeschlichen, hatte sich darin breitgemacht und den einfachen Zutritt zur Schankwirtschaft verbarrikadiert. Wäre es nicht der Rahmen, der sie im Griff hielt, wäre die Tür wahrscheinlich weiter angeschwollen, aus dem Viereckigen heraus, wäre immer mehr mutiert, bis zur Unerkennbarkeit, hätte sich von ihrem Zweck gelöst. Aber Saul war hartnäckig geblieben, er drückte fest dagegen, stieß sie mit der Schulter auf und schleuderte sie damit aus der Einzäunung.

      Kaum flog sie auf, hafteten einige wenige Blicke auf ihm, flüchtig, um den Neuzugang zu registrieren. Schon wandten sich die paar Köpfe ab und widmeten sich wieder ihrer ursprünglichen Beschäftigung.

      Wie üblich blickte Saul als Erstes nach links zu den Vierernischen entlang der Fensterfront, wo er immer saß, erspähte sofort eine freie, die letzte in dieser Viererreihe, steuerte sie an und setzte sich mit dem Rücken zur Wand, sodass er den Überblick über die komplette Wirtschaft behielt. Er lehnte sich gegen den Tisch, beugte sich vor und sah sich um. Kaum wanderten seine Augen über den Tresen, stand der Wirt neben ihm, nickte ihm zur Begrüßung zu und brachte ihm ein Bier. Saul umfasste den verschwitzten Krug, der sofort nach dem Abstellen einen unebenen Ring in den Deckel eingemorscht hatte, und fuhr sich den Rand an den Mund.

      Er konnte den Weg des ersten Schlucks genau nachverfolgen, bis dieser im Magen angekommen war. Die Kälte breitete sich in seiner Brust kurz aus, Saul krümmte sich in seinem Mantel zusammen, zog sich wie in einen Panzer zurück. Die Schulternähte, die schon sowieso über dem Oberarmansatz hervorstanden, ragten nun wie Hörner in die Seiten, er versank in diesem Filzkörper, nur der Kopf schaute wie ein lästiges Glied hervor, das nicht zum Ganzen gehören wollte.

      Der Krug war nur noch zu einem Drittel gefüllt, und Saul hielt ihn mit beiden Händen auf dem Tisch umfasst. Darüber gebeugt und in sich versunken, hingen ihm die Haare ins Glas, während das Schaummuster an den Wänden immer mehr eintrocknete. Durch die willkürlichen Ornamente starrte er auf den bernsteinfarbenen Inhalt, die Augenbrauen zusammengezogen, die Unterlippe schlaff, glänzte noch von dem letzten Schluck. Saul zog sie ein, nahm den Krug am Henkel und kippte den Rest des Biers hinunter. Das Schaumwölkchen rutschte die glatte Glaswand entlang, kam auf dem Boden auf und glitt ins Flüssige auseinander.

      »Ein Zufall war’s und nichts als Zufall.«

      »Niemals, es war geplant.«

      Der Hinterkopf vor ihm, ein kurzgeschorener, spaltete sich in zwei Stimmen, fiel in zwei Timbres auseinander, die sich gegenseitig widersprachen.

      »Wer plant denn so was?«

      »Jemand, der einen guten Sinn für Humor hat.«

      »Das ist nicht lustig, das ist morbide!«

      »Gut, morbiden Sinn für Humor.«

      »Du hältst das für witzig?«

      »Ich hab gelacht.«

      »Die ganzen Leute … die Alten, sie hätten doch vor Schreck umfallen, hätten einen Herzinfarkt kriegen können, einfach so, vor Schock, hast du daran gedacht?«

      »Dann hätte man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wo sonst, wenn nicht in einem Bestattungsinstitut krepieren?« Die Stimme hinter dem Hinterkopf lachte.

      »Ich fass es nicht!«

      »Oh, hab dich nicht so. Ist ja nichts passiert. Wenn was passiert wäre, wäre es überall in den Zeitungen, es ist aber nichts passiert, alle sind anscheinend wieder gesund und munter aus dem Saal marschiert.«

      »Das war doch ein Glücksfall!«

      »Übertreib nicht.«

      »Ich fass es nicht! Du kommst zu einer Beerdigung, siehst den Toten gerade noch im Sarg liegen, aufgebahrt, und schon steht er vor dir! Einfach so! Gerade noch im Sarg und dann plötzlich vor dir! Du drehst dich um – Leiche, schaust wieder geradeaus – Geist! Ich wär selbst vor Schock erstarrt, mir wär das Herz stehen geblieben!«

      »War ja kein Geist. War der Bruder, der vor denen stand.«

      »Ja das wissen die anderen doch nicht! Die wissen doch nicht, dass der da, der vor ihnen steht, der Bruder ist! Der Tote hat doch niemandem

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