Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert
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Davon sind auch Entscheidungsträger nicht ausgenommen. Im Gespräch mit einem Abgeordneten fiel die Frage nach Entscheidungsvorbereitung. Er sagte: »Ich kann gar nicht mehr alles lesen, was ich lesen müsste, um auch nur halbwegs richtig liegen zu können.«
In diesem ganzen Sturm aus altem und neuem Wissen, in dieser Flut aus verfügbaren Bildungsbruchstücken, abrufbaren und ständig neu hinzukommenden Informationshäppchen geschieht nun etwas Wesentliches: Die Schnittmengen an geteiltem Wissen (wie auch immer wir es definieren) werden notgedrungen immer kleiner. Ein »Kanon« ist von einer Person längst nicht mehr zu bewältigen. Es müssen stattdessen, wie der Journalist Ulf Poschardt in Mündig schreibt, »Nutzungs- und Bewältigungsstrukturen konstruiert werden«, die die neuen Wissensmengen sichtbarer, lesbarer und überhaupt erst begreifbar machen.
Fast liest es sich wie eine Illusion. Denn viele haben längst aufgegeben, sich noch ein Quantum an Wissen anzueignen, das einst als umfassend oder gar flächendeckend gelten konnte. Es fehlt die Zeit, die Übersicht. Es fehlt das Gefühl der Machbarkeit.
Die klassischen Medien – Zeitungen, Magazine, Radio, Fernsehen – sind darum längst mehr zu (Vor-)Sortierern und Ratgebern geworden, als sich noch in ihrer alten Rolle als Aufklärer und Säulen der Meinungsbildung behaupten zu können. Im Zeitalter der metastasierten Wissensverbreitung und des Informationsbeschusses testen sie mehr, geben Tipps und müssen schnelle Überblicke verschaffen, anstatt Hintergründe zu durchleuchten, Zusammenhänge aufzuzeigen oder gar so etwas Verrücktes zu tun wie zu denken und zu philosophieren (im alten Griechenland war das noch demokratisch gelebter Straßenalltag).
Nicht umsonst ist das Infotainment zum weitverbreiteten Modus der Wissensvermittlung geworden: Informationen, Nachrichten und Wissen so leicht und flott, so bekömmlich und unterhaltsam präsentieren, dass der Zuschauer, Hörer oder Leser überhaupt noch die Bereitschaft entwickelt, bei der Stange zu bleiben. Dabei ist vom Zuschauer, Hörer oder Leser kaum mehr die Rede. Die Rezipienten sind zu Medienkonsumenten geworden, die durchs Zeitgeschehen streunen wie über einen rammelvollen Marktplatz. Obendrein haben sie sich längst selbst zu öffentlichen Stimmen befördert. Auf Homepages, in Foren, Kommentaren und sozialen Medien ist heute so ziemlich jeder Publizist.
Um sich in dieser Gemengelage noch ein Gesamtbild zu verschaffen und sich darüber hinaus zu orientieren, sind heute ein enormer Lern- und Lesewille sowie die Kunst des Selektierens gefragt; dies neben dem Zwang, sich gleichzeitig immer stärker spezialisieren zu müssen, um vor allem im Beruf auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Ärzte, Piloten, Ingenieure, Architekten, Stadtplaner, aber auch Unternehmer, Manager und Politiker, sie alle können ein Lied davon singen. Oft haben sie mehr damit zu tun, dem aktuellen Stand neuer Entwicklungen und Technologien hinterherzuhecheln als damit, ihren eigentlichen Beruf auszuüben. Zu eng sind die Welten in vielen Bereichen inzwischen miteinander verflochten. Im Großen und Ganzen ergibt sich ein heiteres Szenario: Mal skeptischer, mal euphorischer und mal besinnungsloser steht der Mensch aus Fleisch und Blut dem expandierenden, vorrangig aus Bits und Bytes geformten Informationsinput gegenüber – in den seltensten Fällen allerdings noch wirklich wissend.
Eine repräsentative Studie des Marktforschungsinstituts YouGov hat gezeigt, dass kaum jemand hierzulande neue digitale Technologien wie Big Data, Blockchain oder Immersive Media erklären kann, weder oberflächlich noch tiefgreifend. Auch Technologien, die immerhin vom Namen her geläufig waren, konnten 34 Prozent der Studienteilnehmer gar nicht und 44 Prozent nur noch oberflächlich erklären. Im Durchschnitt wussten nur noch 19 Prozent Bescheid. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Wissenslücken deutlich überwiegen, fehlendes Wissen und Skepsis zudem eng zusammenhängen. Nach dem Motto: Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit.
Insgesamt müssten wir im Vergleich zu früher aber wohl weniger von Wissenslücken sprechen, auch nicht so sehr von einer zunehmenden Bildungsschere, sondern von einer Zerfaserung ganz anderer Art. Denn die Menschen tummeln sich mehr und mehr auf einzelnen Wissensinseln, leben in ihren eigenen dynamischen Bildungsblasen. Das eine Weltwissen gibt es nicht mehr. Es ist kaum mehr katalogisierbar, nicht mehr quantifizierbar und schon gar nicht mehr greifbar. Wir selbst sind quasi zu Computern geworden: zu einzelnen Abrufstellen, die an jenen Servern hängen, in deren Datenmeeren sich der Krake unermüdlich klont.
Immerhin: Wissen gibt es heute auf Abruf. Wir googeln es einfach. Gut oder schlecht? Um eine Bewertung in diesem Sinne geht es mir hier nicht. Wohl aber um eine Fragestellung, die inzwischen womöglich mehr Tragweite besitzt. Denn wie kommen wir alle in Zukunft miteinander klar, wenn uns eine Basis gemeinsamen Wissens abhandenkommt? Wenn der eine dies weiß, der andere das? Wenn der Nächste dies gelesen, der Übernächste etwas ganz anderes vernommen, gelernt und verinnerlicht hat? Wenn die Schere die Gesellschaft längst nicht mehr nur in Gebildete und Ungebildete zerschneidet, sondern uns die digitale Zäsur auch hier in tausend Parzellen zerlegt?
Und auch Lesarten und Deutungen, das neumoderne Framing von Information, klaffen auseinander. Dass Flüchtlingsaktivisten und Rechtspopulisten dieselben News vollkommen verschieden lesen, ist nicht mehr nur ein Informationsfehler. Donald Trump machte es vor. Die absolute Sprechunfähigkeit zwischen gesellschaftlichen Lagern. Und das ist die Grundvoraussetzung für Spaltung. Und dafür, gespalten zu bleiben.
Die Idee eines von vielen geteilten Wissens, das Konzept eines von ebenfalls möglichst vielen akzeptierten Bildungskanons war lange die Basis für eine funktionierende Gesellschaft. Bei aller Gegensätzlichkeit, bei aller Meinungsvielfalt, bei allen möglichen Bildungsniveaus und Wissensständen: Es gab doch immer den einen großen Pool, in dem alle herumschwammen.
Dieser Pool aber versickert gerade. In unzähligen kleinen Flüssen, Rinnsalen und Tröpfchen fließt er davon.
Ob noch von einer Einsamkeit oder Vereinsamung zu sprechen ist, wenn immer mehr Menschen in ihren Wissensclouds dahindriften, dürfte eine Frage des subjektiven Empfindens sein. Vielleicht wird es sich anfühlen wie in einem Land, in dem jeder seine eigene Muttersprache spricht. Von einer weiterführenden Form der Vereinzelung aber muss unbedingt die Rede sein.
Denn so sehr geteiltes Wissen uns eint, so sehr trennt uns seine Zersprengung.
Die Zeichen sind längst da. In einer Welt des immer komplexer werdenden Wissens ist die Tendenz zu einer vorschnellen und gefährlichen Simplifizierung vielerorts zu vernehmen: Schwarzweißmalerei anstelle eines weitaus fordernderen Verständnisses der Zwischentöne und Graustufen. Auch haben sich durch den immer feiner zergliederten Wissensstand bereits immer mehr Meinungsinseln gebildet. Zunehmend entferntere Erkenntnisbiotope, immer entlegenere Auslegungsgruppierungen. Und je größer das Angebot, desto schriller der Jahrmarkt. Die Vielzahl der Verschwörungserzählungen ist ein weiteres Indiz. Die Vielzahl der Märchen und die Vielzahl derer, die an sie glauben. Und auch an diesen Begriff haben wir uns längst gewöhnt: Fake News. Derart gedeihen und vermehren können sie sich wohl nur, wenn ihnen kein einhelliges, profundes Wissen entgegengesetzt wird.
So sind wir auf einer weiteren Stufe der Vereinzelung angelangt: der Uneinigkeit durch unüberschaubar gewordenes Wissen.
Das Phänomen zeigt sich in Schemen, an die wir uns noch nicht gewöhnt haben. Es liegt weit entfernt von jenen Facetten der Einsamkeit, die Kunst und Kultur uns einst erklärten, die heute aber höchstens noch als vergangene Stereotypen durchgehen können. Das wundersame Gefühl der neuen Einsamkeit kennt andere Dimensionen. Eine moderne Lostness, die sich anders und auch an anderen Stellen manifestieren wird.
Grund zum Schwarzsehen ist das noch nicht. Doch sollten wir auf dem Quivive sein. Denn wieder wird es um die Membranen gehen, die neuartig Getrenntes eben auch