Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert
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Und was die Bewertung von Einsamkeit angeht, geschieht hier nun etwas absolut Überraschendes. Denn der Ausgestoßene, Isolierte, Einsame oder Vereinzelte – wie man ihn letztlich auch nennen mag – streift hier auf einmal sein beflecktes Etikett ab. Der moderne Einzelgänger erlebt sozusagen eine positive Überschreibung. Denn so sehr das vereinzelte Wesen im menschlichen Zusammenleben lange eher verschmäht wurde, so sehr nehmen wir es heute auf einmal als Ideal wahr.
Ein Paradigmenwechsel, dessen Bedeutung wir uns noch gar nicht in Gänze bewusst sind. Dabei findet genau hier nicht nur ein Sinneswandel, sondern auch eine Umbewertung des Einsamkeitsbegriffs von außerordentlicher Tragweite statt. Im Eiltempo der kapitalistischen Aufrüstung haben wir den Charakterzug der Einsamkeit umprogrammiert. Bis der moderne Mensch endlich auf ganz neue Weise brilliert: Nicht mehr glücklich in der Gemeinschaft, sondern erfolgreich in seiner eigenen Singularität.
Dies ist ein so wesentlicher wie bemerkenswerter und vielleicht auch bedenklicher Schritt. Und neben den kaum absehbaren Nebenwirkungen birgt er vor allem die Notwendigkeit, auch das Phänomen der Vereinsamung völlig anders zu betrachten.
Warum wir Einsamkeit völlig neu begreifen müssen
Wie schön. Schon vor einigen Jahren hat das Zukunftsinstitut die Individualisierung der Welt ausgerufen. Einen Megatrend, der sich überall ausbreitet und zu einer beispiellosen Ausdifferenzierung von Lebenskonzepten, Karrieren, Marktnischen und Welterklärungsmodellen geführt hat. Immer mehr gewinnt der Mensch die Freiheit zu wählen, auszuwählen. Er kann entscheiden, wo er lebt, wie er lebt, kann entscheiden zwischen unzähligen und ständig neu hinzukommenden Berufen. Wie er seine Sexualität auslebt, wie er sich kleidet und sich präsentiert, auch hier bieten sich heute immer mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Der Freiraum, den der Einzelne inzwischen für sich beansprucht, ist weiter und größer geworden, und er fordert immer mehr Platz. Normgebende Institutionen wie Politik oder Kirche, so schreibt das Zukunftsinstitut, verlieren an Autorität. Die Antwort auf die Frage, welche Lebensweise die gute, die richtige ist, wurde derweil immer mehr in die Verantwortung des Einzelnen gelegt. Der Medienphilosoph Norbert Bolz formuliert es so: »Sinn wird zunehmend zur Privatsache.« Kollektiver Zwang weicht dem Privileg der Freiheit. Oder anders: der Zumutung der Freiheit.
Und die Individualisierung bricht sich auf vielen Ebenen Bahn. In der Ökonomie schreitet die Ausdifferenzierung der Märkte immer weiter voran, werden die Produkte am Ende der Ketten zunehmend personalisierter. Auf sozialer Ebene kann ein jeder heute über sein Leben bestimmen wie nie zuvor in der Geschichte, steht damit aber auch der Aufgabe gegenüber, wählen und sich über diesen Prozess Gedanken machen zu müssen. Die Freiheit zur Wahl geht einher mit dem Zwang zur Entscheidung.
In der überindividualisierten Gesellschaft begreift sich jeder inzwischen selbst als Handlungszentrum. Das moderne Individuum löst sich von festen sozialen Klammern, denkt nicht mehr in Klassen, Schichten, Geschlechterrollen. Vielmehr entwirft es seinen eigenen Lebenslauf, entwickelt eigene Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften. Es destilliert seine ureigenen Geschmäcker, formt seine eigene Sprache. Der Mensch wird zum Designer seiner eigenen sozialen Realität. Die Biographie wird zur Multigraphie.
Und damit sind wir nun endlich ganz im Hier und Heute gelandet. Und dürfen vergnügt feststellen: Der Mainstream ist in tausend Subkulturen zerfasert – und diese tausend Subkulturen sind gerade dabei, zum Mainstream zu werden.
Reichlich obsolet scheint es darum, auch noch immer in alten Kategorien und Schubladen der Einsamkeit zu denken. Viel sinnvoller ist es, den Zustand der Vereinzelung im Licht der neuen Zeiten zu betrachten. Die Einsamkeit – die im Laufe der Geschichte oft genug zu verschiedensten Lesarten führte – offenbart sich alsdann völlig neu. Wir begreifen sie anders, bewerten sie anders. Und können ihr auch dann erst effektiv begegnen.
Anders: Jede Einsamkeit ist ein Produkt ihrer Zeit.
Vertraute Versionen und Betrachtungsweisen sind darum hinfällig. Vor allem in Zeiten der rasenden Digitalisierung wirken altbekannte Einsamkeitsmuster wie Auslaufmodelle ihrer selbst. Ein Johann Wolfgang von Goethe ist längst zum Gestrigen geworden, die Theorie einer »Lonely Crowd« nur noch eine Fußnote in den Geschichtsbüchern.
Denn was ist geschehen? Besonders in den letzten zwei Jahrzehnten? Genauer noch im letzten Jahrzehnt, mit dessen Errungenschaften inzwischen sogar unsere Gefühle durch den digitalen Durchlauferhitzer gejagt werden?
Was geschieht im Zuge dessen wohl auch mit der Einsamkeit, wenn es in Japan inzwischen gängig geworden ist, beim Candlelight-Dinner einer sprechenden Puppe gegenüberzusitzen? Wenn, wie im Spiegel berichtet, die Cobots unaufhaltsam auf dem Vormarsch sind?
In Zeiten von Corona macht die Automatisierung gerade noch mal ordentliche Schritte nach vorn. Autonom navigierende Roboter desinfizieren neuerdings im großen Stil Kliniken, die dänische Firma Blue Ocean Robotics kommt mit der Auslieferung kaum hinterher. GoBe, UVD und PTR Robots heißen die Maschinen, darunter auch jene modernen Putzkolonnen, die Menschen in Form mannshoher, blau leuchtender Röhren ablösen und imstande sind, Krankheitserreger in einem Zimmer binnen zehn Minuten zu 99,9 Prozent zu vernichten. Serviceroboter statt Verkäufer bedienen derweil in den ersten Elektronikmärkten, auch innovative Immobilienmakler schicken inzwischen Roboter durch Wohnungen und Häuser. Potenzielle Mieter und Käufer können diese via App fernsteuern und sich die Immobilie auf diese Weise schon mal selbst anschauen. Weder sie noch der Makler sind dabei anwesend. Zumindest nicht in den vier Wänden, um die es geht.
Digitale Assistenten heißen all diese Gerätschaften, und sie verlassen zunehmend den industriellen Bereich. So langsam mischen sich die künstlichen Helferlein unters Volk – was auch den Begriff der Zwischenmenschlichkeit neu verankern dürfte.
Zu einer viel abstrakteren Vereinzelung kommt es heute auf anderer Ebene. Und ich würde hier eher von einer Verlorenheit sprechen, von einer Überforderung im Überfluss. Denn was geschieht, wenn der Mensch vor der berühmten Qual der Wahl steht? Er ist gestresst, fühlt sich auf gewisse Weise alleingelassen. Psychologische Versuche haben gezeigt, dass sich der Mensch bei der Wahl von Produkten und Angeboten nur in einem bestimmten »Fenster« wohlfühlt. Stressforscher wie Mazda Adli nennen es das »umgedrehte U der Zufriedenheit«. Dargestellt auf x- und y-Achse zeichnet sich dabei eine Parabel ab. Sie macht deutlich: Mit der wachsenden Zahl der Möglichkeiten nimmt unsere Zufriedenheit ab.
Die Ökonomen Elena Retuskaja und Robin Hogarth legten Probanden eine Auswahl von Geschenkschachteln vor: Mal fünf, mal zehn, mal fünfzehn, mal dreißig. Mit einer Wahlmöglichkeit von zehn fühlten sich die meisten am wohlsten, bei fünfzehn Schachteln nahm die Zufriedenheit bereits ab. Grund: Je größer die Menge ist, aus der wir auswählen können, desto mehr stresst uns das Risiko, nicht die beste Wahl treffen zu können.
Nun sind fünfzehn, zwanzig oder auch dreißig Schachteln ein überschaubares Beispiel. Was jedoch passiert, wenn wir im Supermarkt vor 50 Joghurtsorten stehen, in der Stadt zwischen 70 Bars und im Reisebüro zwischen 100 All-Inclusive-Clubs wählen können? Und das alles ist noch klein-klein gedacht. Denn wie reagieren unsere Synapsen erst, wenn wir uns im Internet durch Hunderttausende Angebote klicken? Lampen, Hosen, Dichtungen, Glühlampen: Von A bis Z ist heutzutage alles in unendlicher Zahl zu haben, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.
Was, wenn wir uns danach im Dschungel der Apps umtun? Wenn wir uns heute unzählige Applikationen aufs Handy beamen können, die jahrzehntealte Einrichtungen, Instrumentarien und auch Rituale im Handumdrehen ersetzen: das Reisebüro, den Bahnschalter, den Bankbesuch, den Wetterbericht, den Taschenrechner, die Fotokamera, den Radiosender, die Straßenkarte, die Zeitung, das Spiel, den Pulsmesser. Ganze Welten stehen uns heute im Hosentaschenformat zu Verfügung, abrufbar in Millionenzahl, downzuloaden in nicht mehr