Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert

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Die neue Einsamkeit - Diana Kinnert

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Jahr, in dem ich mit den Anfängen britischer Einsamkeitspolitik in Berührung kam, verstarb sehr plötzlich meine Mutter. Die zentrale Figur unserer vierköpfigen Familie wurde jäh aus dem Leben gerissen, und nach über 25 Ehejahren stand zunächst einmal mein Vater ziemlich allein da. Die Ehe meiner Eltern war immer eine symbiotische gewesen. Die beiden waren sich selbst genug, Freundschaften hatten sie nie groß gepflegt. Ausflüge zu machen, das bedeutete höchstens gemeinsames Spazierengehen. Eine Ausgehkultur, Bekanntschaften durch Vereinsaktivitäten oder ehrenamtliches Engagement, all so etwas war ihnen völlig fremd. Auch darum brachte der Tod meiner Mutter meinen Vater an einen Punkt des extrem empfundenen Alleinseins. Meine jüngere Schwester, damals 23, war nicht weniger betroffen. Auch sie hatte in meiner Mutter stets die wichtigste Bezugsperson gefunden.

      Ich selbst brauchte ebenfalls Zeit und suchte Wege, um mit dem Verlust meiner Mutter umzugehen. Darüber hinaus jedoch – davon war ich überzeugt – sollte der Tod meiner Mutter für mich keinen Initialpunkt eigener Einsamkeit darstellen. Wie auch? Mein Berufsalltag war prall gefüllt. Ich jonglierte zwischen Politik, Wirtschaft und Medien, tagtäglich weilte ich unter den unterschiedlichsten Menschen. Nicht einmal beim Essen saß ich allein, verbrachte kaum einen Abend in der eigenen Wohnung. Dazu trug nicht nur Berlin bei, wo ich wohnte. Auch die mich umgebende Szene war viel zu verführerisch und lebendig, um an so etwas wie Einsamkeit auch nur zu denken. Immerzu wurden neue Bekanntschaften geschlossen. Das Kennenlernen anderer Menschen war für mich Alltagsroutine. Und wie leicht schien das heute zu gehen? Man traf jemanden, tippte dessen Nummer ins Telefonbuch oder Profilnamen ins soziale Netzwerk, fertig. Auch stand ich zunehmend in der Öffentlichkeit. Ich saß in Podiumsdiskussionen, betrat Bühnen und trainierte regelrecht, vor fremden Menschen fließend sprechen zu können. Am Bahnsteig unterhielt ich mich selbstbewusst mit den Menschen, ging offen und souverän auf Fremde zu. Ich war durch und durch Menschenfreund.

      Das Abziehbild eines sozialen Wesens.

      Parallel aber geschah noch etwas anderes. Und zwar mehr oder weniger unbemerkt, überdeckt vom quirligen Alltag, überblendet von den schnellen Zeiten. Ich brach mit alten Freunden, beendete eine Liebesbeziehung nach der anderen, vermied in weiten Teilen sogar den Kontakt zu Vater und Schwester. Alles, was mich an den Schmerz erinnerte, an die Verlusterfahrung durch den Tod meiner Mutter, spaltete ich vehement von mir ab. Und dieses innere Rückzugsmanöver verschärfte sich noch, als ich mich bald auch noch von langjährigen Mentoren und anderen vertrauten Begleitern verabschieden musste. Meine Großeltern starben. Der Aktivist und Mitbegründer von Cap Anamur, Rupert Neudeck, den ich gut kannte und mit dem ich viel Zeit verbracht hatte, starb. Der Politiker Peter Hintze, mein Chef, auch er starb. Ein Jahr lang wurde ich von Todeserfahrungen verfolgt.

      Erst heute verstehe ich, was damals geschah. Zu was mich diese Erfahrungen trieben. Ich begegnete meinem Schmerz nicht. Ich hörte ihm nicht zu und wollte diese Diana Kinnert nicht fortsetzen. Stattdessen erfand ich mich als neue Person. In einer Euphorie von Triumphalismus stürzte ich mich in die Arbeit, züchtete mir einen Freundeskreis heran, dem ich mein dauerhaftes Muntersein als Charakter verkaufte, sabotierte intimere Beziehungen, in denen mich ein liebendes Gegenüber aufrichtig erkannte und behutsam den Schleier heben wollte. Ich wurde gemein, hinterließ verbrannte Erde. Suchte nach Lärm und Ablenkung, war richtig süchtig danach. Und dabei boykottierte ich alle Ruhe und Intimität. Erstickte die Wiege des Eigenen, den Ort der reflexiven Begegnung. Die tiefe Einsamkeit, die mich in diesem Prozedere der Selbstignoranz überfiel, war allerdings sehr gut getarnt. Denn meine Einsamkeit war keine, bei der ich die Anwesenheit anderer vermisste. Meine Einsamkeit war eine, bei der ich mich selbst vermisste.

      Ich war eine lange Zeit einfach nicht mehr da gewesen.

      Rückblickend haben mich diese Erfahrungen vor allem eines gelehrt: Wie schwierig und vertrackt es ist, sich dem Thema Einsamkeit zu nähern. Und dies nicht nur innerlich und emotional, sondern allein schon auf der Ebene der Definition. Und dabei besteht genau hier eine zwingende Kausalität, die zu verheerenden Missständen führt. Denn wenn wir die verschiedensten Formen der Einsamkeit gar nicht erst weiter ausgraben, wenn wir sie nicht differenzieren, dechiffrieren und benennen, dann werden wir sie auch nicht erkennen, nicht verstehen und erst recht nicht bewältigen können.

      Was also bedeutet Einsamkeit? Was kann sie bedeuten, beinhalten, bewirken? Diese Fragen lassen mich heute ebenfalls wissen: Einsamkeit ist bei weitem keine so offensichtliche und eindeutige Angelegenheit, wie die meisten Menschen glauben. Die Fragen schicken einen vielmehr auf tausend Pfade.

      Liegt eine Isolation darin begründet, keine Freunde zu haben? Äußert sich Einsamkeit in dem Wunsch, am liebsten und immer öfter einfach zu Hause bleiben zu wollen? Lässt sie sich daran bemessen, wie oft wir mit wem sprechen, uns austauschen, uns treffen? Und kann die Last der Einsamkeit sich womöglich auch hinter jenen feinen Untertönen verbergen, die in der Frage mitschwingen, nicht wie oft und wie laut wir mit jemandem kommunizieren, sondern auch wie ehrlich, wie offen, wie wahrhaftig?

      Eines kann ich gleich verraten: Antworten zu finden ist nicht leicht. Es ist schwer. Und oft sind ausgerechnet die widersprüchlichsten Aussagen zum Thema die eindeutigen Indikatoren der Einsamkeit. Wie also mit diesem ganzen Ding am Ende umgehen? Wie sich dieser kuriosen Seelendisponiertheit überhaupt nähern?

      Damit kommen wir zu einem ersten grundsätzlichen Problem. Denn Einsamkeit ist nichts Dingliches, das wir greifen können. Einsamkeit besitzt keine messbare Größe, erlaubt keine numerische Diagnose. Wir können Einsamkeit beschreiben, aber nicht abschließend (er)klären. Auf keinem Röntgenbild ist sie zu sehen, in keinem Blutbild eindeutig nachzuweisen. Schon der Ort, wo die Einsamkeit wohnen soll, bietet kaum definierbare Strukturen: Unsere Seele.

      Wer von Einsamkeit spricht, begibt sich in die vagen Welten der Gefühle. Empfindungen, die wir kaum objektiv messen können, sondern die wir höchst subjektiv erleben.

      Damit kommen wir zu einem zweiten Problem. Denn wenn von zunehmender Einsamkeit in der Gesellschaft die Rede ist, mithin von einem Phänomen, das wirtschaftliche Folgen haben und sogar zum politischen Thema werden wird – woran sollen wir uns dann orientieren? Wie diese unscharfe Empfindung überhaupt packen?

      Viele Zustände lassen sich genau bemessen. Wenn es draußen kalt ist, wissen wir, wie kalt. Wenn ein Auto schnell fährt, wissen wir, ob es gerade mit 160 oder mit 284 km/h über die Autobahn prescht. Auch wie groß eine Wohnung ausfällt, können wir exakt beziffern: 20, 50, 100 oder auch 300 Quadratmeter.

      Auch wenn ein Mensch krank ist, denken wir in recht präzisen Kategorien. Der eine hat Husten, ein anderer Bluthochdruck, der nächste eine Apoplexie in der linken Gehirnhälfte. Die Art der Krankheit, ihr Ort und ihr Ausmaß: Wir sind meist in der Lage, dies sehr genau zu bestimmen und auch auszudrücken.

      Schwieriger wird es schon bei Umständen, die andere Adjektive beschreiben. Wann zum Beispiel ist ein Mensch schön, wann hässlich? Oft sind es kulturell bedingte Schönheitsideale oder auch nur vorgekaute Trends, die uns hier gewisse Muster zur geschmäcklerischen Orientierung an die Hand geben. Ob dies nun gut ist oder schlecht. Doch auch hier gilt letztlich: Schönheit liegt im Auge des Betrachters.

      Was jedoch geschieht, wenn jemand einsam ist? Hier tappen wir im Dunkeln. Haben keine Bemessungsgrundlage, können auf keine Größeneinheit mehr zurückgreifen. Mit der Liebe ist es ja auch so eine Sache. Denn obgleich sie uns wohl deutlich schöner steht, rational zu begreifen ist sie ebenfalls kaum, zu erforschen und zu definieren noch viel weniger. Psychologen, Dichter, Songwriter, sie alle haben sich schon den Kopf darüber zerbrochen. Einige sind dabei zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen, doch eine mathematisch präzise Lösung wird es wohl nie geben.

      Zum Glück? Ja, zum Glück, wollen wir jetzt ausrufen! Als sei es uns nicht geheuer und am Ende auch gar nicht lieb, alles immer bis zur letzten Kommastelle bemessen zu können. Und auch bemessen zu wollen. Zu einem Problem, zumindest zu einer brisanten Lage kann es jedoch führen, wenn das, was wir Gefühle nennen, einen

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