Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert
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Schreie nach Aufmerksamkeit. Vielleicht das letzte Stadium krankhafter Einsamkeit.
Es ist schwer, die tiefen Gründe für die Zerfaserung der Gesellschaft zu verstehen. Intellektuelle und Vordenker haben ihre Gravimeter jedoch aktiviert. Und die seismischen Wellen, die sie empfangen, stammen in ernstzunehmender Übereinkunft aus jenen Regionen, die wir getrost als die systemischen Absiedelungen des Kapitalismus bezeichnen können.
Mit schwindelerregender Verve sind Flexibilität und Agilität zu den Gewinnerfähigkeiten deklariert worden, derweil Verwurzelung und Verbindlichkeit die Opfergestalten produzieren. Die Ausgestelltheit des konsumfordernden wie konsumtreibenden Menschen lässt nun einmal wenig Spielraum für träge Strukturen. Jede Festlegung gerät zum Nachteil, jedes Bindungsversprechen führt zum Stottern im Getriebe. Der vollwertig performende Zeitgenosse ist darum am besten aus Elasthan: Er muss dehnbar sein, beweglich und alternativgeil. Seine Bestimmung liegt im Suchen, nicht im Finden. Ein kulturelles wie historisches Gedächtnis ist ihm im Zuge dieser Mobilmachung abhanden gekommen, eine daraus resultierende Verantwortung niemals begreifbar geworden.
Eine Abgeschnittenheit, die schwerwiegende Folgen hat. Denn es stürzen gerade Brücken ein zwischen den Generationen: Ein Todesbeil für jede moralisch und rituell verbundene Gemeinschaft. Die Forderungen von Kapital und Konsum aber sind verlässlich resolut. Entdecke die Möglichkeiten. Play on. Just do it.
Entsprechend emsig folgen wir dem Ruf, der das eigentlich Traurige zum Ideal erkoren hat. Ein kollektiver Imperativ, dem wir besinnungslos applaudieren. Das Alleinstellungsmerkmal ist nicht mehr nur Maß der Wirtschaft, sondern längst auch das des Menschen. Bis es inzwischen jeder sein will: Einsame Spitze.
Doch die Demokratie und ein funktionierender Staat leben zu weiten Teilen vom exakten Gegenteil dieser Losung: Keine durch rücksichtslose Performance zerstückelte Gesellschaft ist gefragt, sondern ein ständig wachsendes Gemeinwesen aus verschiedenen Milieus und Altersgruppen, aus mündigen und offen verlinkten Individuen. Bürgern, die in ihren Raumkapseln zwar eigene Wege fliegen, aber über intakte Kommunikationsgerätschaften verfügen. Im besten Fall über durchlässige Membranen, die zum allesentscheidenden Instrument werden. Zur Möglichkeit der Begegnung, zur Fähigkeit des Austauschs. Zum Ankoppeln, nicht zum Auseinanderdriften.
Es wäre nun ein Leichtes, eine derart zerfallende Welt allein als gesellschaftsfeindliche Dystopie zu begreifen. Die Staatengemeinschaften als Flickenteppiche der Separatisten und Radikalen zu beschwören, sich die wachsenden Metropolen als Moloche voller Einzelgänger vorzustellen, das Land als Äcker der Zurückgelassenen. Ja, schnell und bequem könnten wir uns in zurückgewandten Ängsten ergehen und die Zukunft schwarzmalen. Charlie Chaplin tat es mit der Industrialisierung, Jacques Tati ließ seinen Monsieur Hulot auf die Auswüchse der Moderne los, und inzwischen gehört die Verkündung einer düsteren Zukunft zum alltäglichen Geschäft der medialen Fehlerfeststellungskommandos. Verlockend ist das Unkenrufen, quotentreibend die allgemeine Untergangslaune.
Ähnliches geschieht gerade mit dem frisch konstatierten Phänomen der großen Vereinsamung. Und tatsächlich klingen die Zahlen nicht gut, die Befunde müssen verunsichern.
Und jetzt auch noch: Corona. Die Pandemie spülte vieles an die Oberfläche. In echt viralem Tempo und im globalen Maßstab stellte Covid-19 auf einmal die Frage, wie und warum die Menschheit so lange das Falsche zulassen konnte, ohne das Richtige zu tun. Beim Klima. Bei der Tierhaltung. Bei der Gesundheit. Beim Turbokapitalismus und beim im selben Atemzug praktizierten Sparwahn, der sich hinter dem hübschen Begriff der Austerität versteckt. Doch brachte die Pandemie noch ein weiteres Thema eiskalt und mit Macht auf den Plan: Nämlich und ganz besonders das der kollektiven Vereinzelung.
Geradezu emblematisch trieb es das Virus hier auf die Spitze und uns alle in die einsame Verbannung. Schon sprachlich standen auf einmal Begrifflichkeiten auf der Tagesordnung, die es deutlicher nicht sagen konnten. Social distancing. Abstandsregeln. Kontaktsperren. Shutdowns, Homeoffice und häusliche Quarantäne. Imperative, die uns aufforderten: Bleibt zu Hause! Haltet Abstand! Gebt euch nicht mehr die Hände! Tragt Masken! Separiert euch! Wie nichts anderes zuvor machte das Virus die Fragmentierung zum Programm: Nicht mehr als eine Person aus einem anderen Haushalt! Schulen zu. Kitas zu. Sogar die Städte: Dicht. Es war, als sei die Vereinzelung mit einem Schlag auf ihrer höchsten Steigerungsebene angekommen. Der Mensch, allein daheim. Verkrochen in den eigenen vier Wänden.
Die meisten litten schon nach kurzer Zeit unter diesem Zustand. Der moderne Mensch drehte im Homeoffice langsam durch. Senioren fühlten sich noch einsamer, als sie es eh schon waren, Kinder vermissten ihre Schulfreunde, in Italien traten die Menschen vor Verzweiflung auf die Balkone und sangen. In den Krankenhäusern erlebten derweil Abertausende, was in vielen Hospizen und auf Friedhöfen längst bekannt ist und was nun auch die Öffentlichkeit unverblümt zu sehen bekam: anonymes Sterben.
»Zweifellos«, schrieb der Spiegel, »verschlimmert Covid-19 ein Problem, das schon vorher Millionen Menschen und Regierungen auf der ganzen Welt beschäftigt hat: Einsamkeit.«
Wird die Pandemie die Gesellschaften langfristig verändern? So lautete eine der vielen neuen Fragen. Eine nächste: Werden die Alten ab sofort nur noch mehr ausgegrenzt, ausgeschlossen, weggesperrt? Werden wir uns alle über Generationen gelernte Begrüßungsformen abgewöhnen? Kein Händeschütteln, kein High five mehr unter Freunden? Sogar Mütter und Töchter standen sich gegenüber, Tanten und Nichten, und sie wagten nicht mal mehr eine flüchtige Umarmung. Das Virus führte zu einer bisher ungekannten Berührungslosigkeit. Die Forscher sprachen vom größten Sozialexperiment aller Zeiten, denn Corona gipfelte in einer gigantischen, weltumspannenden Vereinzelungsstarre. Mitte April 2020 galten in 115 Ländern der Erde explizite Ausgangsbeschränkungen.
Spätestens damit war die Vereinzelung kein Phänomen mehr, sondern zum globalen Status quo avanciert.
Einige befürchten in diesen neuen virulenten Zeiten eine Krise, die am Ende womöglich schlimmer ausfällt als die wirtschaftliche. Experten wie Vivek Murthy und James Coan haben ihr auch schon einen Namen gegeben: Erstmals ist von einer sozialen Rezession die Rede. Von einer Vereinsamung in corpere, die es so noch nie gegeben hat.
Das sind die schlechten Nachrichten. Doch es gibt vielleicht auch gute. Denn was ist ebenfalls in Zeiten der programmatischen Separierung geschehen? Die digitalen Verbindungen schnellten in die Höhe, Zoom und Skype gerieten zu millionenfach genutzten Plattformen für Meetings und gemeinsame Besprechungen. Interviews und Fernsehbeiträge, sonst aufwändig von weitgereisten Kamerateams produziert, entstanden binnen weniger Minuten via Smartphone. Ohne große Dramaturgie, eher improvisiert, oft spontan. Das Internet, sonst vielgescholtenes Disruptionsmedium, wurde zum Austauschbeschleuniger, zum Fluidum der Zusammenkünfte.
Die Jungen feierten ihre Corona-Partys und schauten gemeinsam Filme, saßen mit Freunden auf dem Sofa, jeder für sich zu Hause. Sie aßen dabei Chips und tranken Negroni, der eine draußen auf dem Land, der nächste in der Stadt, in der Wohnung nebenan, der nächste in Australien, Kanada, Neuseeland, wohin auch immer es ihn während seines Work-and-Travel-Trips gerade verschlagen hatte – und doch saßen sie am Ende alle irgendwie in einem Boot.
Bald standen die Leute auch in Frankreich, Spanien, Deutschland auf ihren Balkonen, sie öffneten die Fenster, klatschten, bekundeten Solidarität. Schufen Zusammengehörigkeit, Verbundenheit. Konzerte wurden aus menschenleeren Bars übertragen, Lesungen aus verwaisten Hörsälen. Es war, als würde der Mensch die Separierung nicht wollen und nicht ertragen, die Vereinzelung auf einmal mit aller Macht aushebeln wollen. Und