Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert
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Da waren auf einmal neuartige Membranen. Kanäle und Verbindungskorridore, von denen wir vorher nichts wussten.
Ist das nun alles gut? Ist das nun alles schlecht? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Denn ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Was hier nämlich gerade abgeht, ist nichts Geringeres als ein großes, spannendes, wichtiges und ziemlich entscheidendes Experiment. Wie geht der Mensch mit sich selbst um? Wie mit den über acht Milliarden anderen, die auf dieser Erde leben, einer Erde, die nicht größer wird und gerade auch nicht wirklich flauschiger? Wie tauscht er sich aus, wie begegnet und begreift er sich? Als Partikel im Ganzen oder Partikel des Ganzen? Wie schafft er in der zunehmenden Enge und unter der Last der großen Fragen einen Zusammenhalt? Wie findet er einen sinnvollen Generalkurs, der sich aus Tausenden verschiedenen Zickzacks ergibt?
Ich möchte mich am liebsten an nichts halten. Möchte alles Vorgefertigte vergessen, alles Gelernte und am besten auch mich selbst annullieren. Möchte in diesem Buch vorsichtig forschen und neugierig fragen, wie er womöglich funktionieren könnte, dieser geheimnisvolle Stoffwechsel zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen.
Einsamkeit, die Unbekannte
Viele haben versucht, das alte Gefühl zu erklären. Die eine Definition aber gibt es nicht. Zu unterschiedlich und subjektiv offenbart sich das ominöse Sentiment. Die modernen Zeiten machen es nicht leichter. Die digitale Revolution hat zu Phänomenen der Vereinzelung geführt, die wir noch gar nicht richtig begreifen. Womit also haben wir es zu tun? Wie gedenkt die Politik die Sache anzugehen? Und warum muss die Einsamkeit endlich aus der Tabuzone?
Lange hatte ich keinen blassen Schimmer, was Einsamkeit ist. Schlimmer: Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was dieser Zustand alles bedeuten kann. Einsamkeit fand bei mir als Wort statt, als Teil meines Vokabulars – mit all den Gemeinplätzen, die sich damit leichtfüßig bedienen lassen. Eine Freundin fühlte sich einsam nach einer Trennung, Freunde zogen sich vor dem Examen zurück, um sich ein paar Wochen in aller Ruhe und Einsamkeit vorzubereiten. Auf solche und ähnliche Konnotationen war mein Einsamkeitsbegriff lange beschränkt: Mehr war in dieser Schublade nicht drin. Und ich denke, vielen anderen dürfte es ähnlich ergehen. Einsam ist eben einsam. Abgehakt.
Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von politischen Maßnahmen gegen Einsamkeit hörte, war ich auch darum irritiert. Und staunte regelrecht. Da sprachen einige statt von Einsamkeit von sozialer Isolation – und stuften diese als einen Zustand ein, der angeblich weitverbreitet war.
Konnte das wirklich sein? Und: War das Gefühl einer subjektiv empfundenen Einsamkeit tatsächlich mit realen gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden? Mit anderen Worten: Hatte die Einsamkeit der Menschen Einfluss auf die Gesellschaft? Und konnte andererseits die Gesellschaft einsam machen?
Vor allem fragte ich mich: Wie konnte sich ein Mensch in unserer global und digital vernetzten Welt überhaupt einsam fühlen? In einer Welt, die überfüllter, dichter, zusammenhängender und erreichbarer geworden ist als je zuvor? Wie in diesem kommunikativen Schlaraffenland noch ohne sozialen Kontakt sein? Die Welt der neuen Möglichkeiten schrie doch förmlich nach Interaktion und Austausch.
Es dauerte ein wenig, bis ich verstand. Denn mein Begriff von Einsamkeit war verkürzt, eindimensional. Lange dachte ich auch, Einsamkeit habe nichts mit mir zu tun. Am Ende dauerte es Jahre, bis ich begriff. Bis mir ebenfalls klar wurde, wie einsam auch ich selbst lange gewesen war.
Als mir ein befreundeter britischer Politiker Anfang 2016 davon erzählte, dass man sich in Großbritannien der Aufgabe stellte, politisch gegen Einsamkeit vorzugehen, wurde ich neugierig. Da war ein neues Themenfeld. Es klang nach einer innovativen Agenda, nach progressiven Positionen. Anti-Einsamkeit roch nach Zukunftslust, nach etwas, das den gealterten ideologischen Grabenkämpfen von linken Enteignungsphantasien und neoliberalem Deregulierungswahn etwas Neues entgegenzusetzen hatte. Mario Creatura, ehemals Kommunikationschef der britischen Premierministerin Theresa May und heute selbst Politiker in London, berichtete mir etwa von Senioren, die vor ihren Fernsehern gefesselt allein zu Hause saßen. Von Hunderttausenden alter Menschen, die keinen Besuch mehr von Familie oder Freunden empfingen. Einsamkeit, so speicherte ich es damals ab, würde eng mit der demographischen Entwicklung in Europa zusammenhängen. Und daraus ergab sich folgerichtig auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe, vor allem mit Blick auf die Zukunft. Die Alten litten unter Einsamkeit. Und sie wurden immer einsamer – weil sie immer zahlreicher wurden und immer älter. Das Motto lautete: Wir müssen mehr für sie tun. Müssen sie wieder mehr einbinden, berücksichtigen, uns für sie engagieren. Eine sympathische politische Linie, dachte ich in Zeiten, in denen die Klimabewegung Großelterngenerationen als Umweltsäue und Klimasünder verschrie und sich ein neuer Graben zwischen Alt und Jung aufzutun drohte.
An dieser Vorstellung von Einsamkeit blieb ich erst einmal hängen. An einem wahren Klischee, wenn man so will. Denn natürlich stimmt es, dass die Alten vielerorts vereinsamen. Es lag auf der Hand, und man musste sich nur einmal umschauen, nur einmal die Augen und die Ohren öffnen.
So geschehen während eines Routinebesuchs beim Hausarzt. Noch bevor ich das Wartezimmer betrat, hörte ich mehrere Arzthelferinnen, die sich indiskret beschwerten. Mehrere ältere Patientinnen und Patienten waren frühmorgens unangemeldet in der Praxis erschienen mit plötzlichen Krankheitssymptomen, die in der Nacht aufgetreten seien und deren Behandlung nicht warten könne. Der Terminkalender sei dadurch natürlich durcheinandergeschüttelt. Schaffte es das Praxispersonal dann aber doch, den Patienten ohne Termin nach stundenlangem Plausch aus dem Wartezimmer aufzurufen, winkte dieser zumeist wieder ab. »Ist schon besser geworden, ich glaube, es geht wieder«, verabschiedete sich dieser dann. Genervt standen die Arzthelferinnen beisammen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vielleicht war da gar keine plötzliche Krankheit, vielleicht war da nur dieses extreme Bedürfnis, sich unerkannt und anonym, aber doch innig und lebhaft im Wartezimmer auszutauschen? War das Wartezimmer in der Hausarztpraxis nicht vielleicht der letzte soziale Ort für sozial Isolierte? Und war dieser Treffpunkt nicht obendrein schambefreit und diskret? Ja, sie waren krank, und ja, sie erhielten ihre Behandlung: Die Einsamen holten sich ihren Austausch. An jenem Nachmittag beim Hausarzt reifte der Gedanke: Unsere Gesellschaft ist einsamer, als sie weiß, und einsamer, als sie zugeben will.
Eine der ersten deutschen Fachkonferenzen zum Thema »Einsamkeit als gesellschaftliche Herausforderung« veranstaltete 2019 die Fliedner Klinik in Berlin. Weil ich in der britischen Anti-Einsamkeitspolitik bereits mitgearbeitet hatte, wies man mir bei der Konferenz einen Bühnenplatz als Expertin zu. Und ich musste staunen, als ich die Hallen betrat. In dem gewaltigen gläsernen Forum direkt am Pariser Platz, zu Füßen des Brandenburger Tors, saßen Hunderte Gäste: Sämtliche Ränge waren besetzt.
Nach zehn Jahren Politik war ich konditioniert, hatte sich mein Blick an ein Meer aus dunklen Anzügen und Kostümen gewöhnt. Die Uniform der politischen Klasse war erstaunlich klar. Doch hier stimmte etwas nicht, da saß keine politische Klasse vor mir. Dieses Publikum trug grüne Baumwollpullover, rosafarbene Blusen und violette Kordhosen. Hier saß jedermann. Hier saß das Volk. Hier saßen Betroffene. Das Thema Einsamkeit traf einen gesellschaftlichen Nerv, berührte mehr Menschen als jene, die der politische Berufsalltag dazu befehligte. Die Ansage aus Großbritannien bestätigte sich: Einsamkeit eignete sich auch als politisches Thema in Deutschland. Und ich rieb mir die Hände: Man müsse doch nur vereinsamte ältere Menschen zusammenführen, Problem erledigt. Was für eine überschaubare Mission.
Doch dann geschah etwas, das mich auf einmal mit einer gänzlich anderen Kategorie