Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert

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Die neue Einsamkeit - Diana Kinnert

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stieg um 26 Prozent bei subjektiv empfundener Einsamkeit, um 29 Prozent bei objektiv beschreibbarer menschenvermeidender Einstellung und sogar um 32 Prozent, wenn die Teilnehmer allein lebten.

      Dass Einsamkeit tatsächlich krank macht, zeigen Experimente. Im März 2020 wiesen Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge nach, dass Einsamkeit Empfindungen auslöst, die mit Hunger vergleichbar sind. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Nähe zu anderen Menschen ein so fundamentales Bedürfnis ist wie Essen. Vor allem eine unfreiwillige Isolation löst im Körper anscheinend eine regelrechte Stressreaktion aus, die dem Betroffenen signalisiert, dass ihm Lebenswichtiges fehlt. Und dieses Hungern nach Gesellschaft kann chronisch werden.

      Andere Versuche haben hingegen gezeigt, wie Nähe lindern kann, dass schon Händchenhalten wie Balsam auf uns wirkt. Probanden in einem Hirnscanner wurden dafür Elektroschocks verabreicht. Ein Teil der Gruppe musste die Traktierungen allein ertragen, andere durften die Hand eines Fremden halten, die nächsten die Hand des Partners. Die Resultate waren eindeutig. Wer mit einer vertrauten Person Hand in Hand stand, litt statistisch gesehen am wenigsten. Die Berührung wirkte offenbar wie ein Schmerzmittel, denn die Hirnregionen, die bei Gefahr aktiviert werden, reagierten bei den händchenhaltenden Pärchen deutlich weniger. Der Hirnforscher James Coan erklärt das Phänomen so: »Wenn wir uns einem anderen Menschen anvertrauen, muss sich unser Gehirn weniger anstrengen. Und je mehr wir es auf diese Weise entlasten, desto besser sind wir vor psychischen und auch physischen Krankheiten geschützt.«

      In der Gesamtschau fügen sich diese Beobachtungen letztlich zu einem besorgniserregenden, wenn nicht gar bedrohlichen Bild. Denn wenn Einsamkeit tatsächlich krank macht, wenn verschiedenste Formen der Vereinzelung inzwischen weite Teile unserer Gesellschaft erfasst haben und diese Gesellschaft obendrein immer älter wird, dann dürfte das Problem zunehmend auch Auswirkungen auf die Wirtschaft und unsere Gesundheitssysteme haben. Und somit unweigerlich zum Politikum werden.

      In anderen Ländern stellt man sich dieser Aufgabe bereits. In England wurde ein Ministerium für Einsamkeit gegründet, um die vereinsamende Gesellschaft besser zu verstehen und ihr gezielt zu begegnen. Die von der ehemaligen Premierministerin Theresa May ins neue Amt berufene erste Ministerin für Einsamkeit, Tracey Crouch, begründet den Schritt so: »Einsamkeit ist eine reale und diagnostizierbare Geißel.«

      Die Folgen fallen schon jetzt dramatisch aus. Durch den demographischen Wandel nimmt die Vereinzelung unter alten Menschen ständig weiter zu. In den westlichen Industriegesellschaften ist dies bereits als einer der traurigen Gigatrends der nahen Zukunft ausgemacht worden.

      Auch die zunehmende Migration wird zu einer weiteren Form der Vereinsamung führen beziehungsweise hat dies längst getan. Migranten – vor allem jene der zweiten Generation – fühlen sich oft besonders ausgeschlossen. Sie sind in Deutschland geboren oder hier aufgewachsen, empfinden jedoch weder das Geburtsland ihrer Eltern noch Deutschland wirklich als ihr Zuhause. Der allseits zu vernehmende Ruf nach Integration bestätigt dies. Weil genau das Gegenteil weit verbreitete Realität ist: Die Desintegration. Und sie ist nur eine weitere Facette der Einsamkeit. Die Heimatlosigkeit.

      Doch egal, ob wir von kultureller Ausgrenzung sprechen, von Kontaktarmut, Isolierung, Verlassenheit oder sozialer Disruption: Die Vereinsamung wird gerade zu einem gesamtgesellschaftlichen Riesenthema.

      Vielleicht ist man in den Megametropolen Asiens schon viel weiter. Dort haben die Auswüchse der Vereinsamung längst bizarre – oder sollten wir sagen: moderne? – Züge angenommen. In Japan und China können sich einsame Geister zu Weihnachten in Familien einmieten, sich zum Geburtstag Gesellschaft ins Haus buchen. Fremde, die zu bezahlten Freunden werden.

      In Japan boomt das sogenannte Rent-a-friend-Business. Diverse Agenturen haben ausgebildete Schauspieler angestellt, die auf Wunsch und für hohe Gagen als Ehemann einspringen, als Statisten auf der Hochzeit, als Kumpelersatz beim Sushi-Abend. Der 36-jährige Japaner Ishii Yuichi gründete schon vor zehn Jahren die Firma Family Romance und spürte schnell, dass der Bedarf nach menschlicher Lückenfüllung nicht nur vorhanden war, sondern stetig stieg. Yuichi selbst spielte für jüngere Menschen schon den Vater, mimte bei Beerdigungen ein trauerndes Familienmitglied, weil das echte nicht existierte oder nicht zur Verfügung stand. Inzwischen sind um die 800 Laiendarsteller und Profischauspieler bei ihm unter Vertrag, darunter Kleinkinder und ältere Menschen, die als Familien-, Verwandten- oder Freundesersatz im Angebot sind.

      Die Agentur wirbt damit, für fast jede Lebenssituation einen passenden Menschen liefern zu können, und Ishii Yuichi glaubt fest daran, dass diese Sozial-Surrogate dabei helfen, Absenzen zu ertragen, fehlendes Seelengut gezielt zu ersetzen. Seinem Geschäft prognostiziert er eine blühende Zukunft. Laut Yuichi soll, wie in The Atlantic zu lesen ist, die »menschliche Interaktion à la carte« schon bald zur Norm werden.

      In Anbetracht solcher Entwicklungen mutet es naiv an, sich noch über Petitessen wie Verschwörungserzählungen oder Fake News zu echauffieren. In Fernost hat längst das Zeitalter der Fake Friends und Fake Family begonnen, denn im hoch technologisierten und mit fast 130 Millionen Menschen dicht bevölkerten Japan ist loneliness zum Ist-Zustand geworden.

      Über 15 Prozent der Japaner geben an, sie hätten außerhalb der Familie überhaupt keinen sozialen Austausch mehr. Und ebenfalls 15 Prozent der älteren Männer, von denen einige Millionen allein leben, sagen, sie würden in einem Zeitraum von zwei Wochen weniger als eine Konversation führen. In Japan spricht man von einer neuen Form des Schweigens. Von einem Ausmaß an Stille und Wortlosigkeit, das heute nicht mehr für Tugenden steht, sondern für die Ausbreitung der gesellschaftlichen Isolierung – der man mit entsprechenden Methoden jedoch längst beikommt. Und in der man in Windeseile wirtschaftliches Potenzial erkannt hat.

      Als eine Form der zivilisatorischen Entwicklung mögen es die einen betrachten, als menschliche Verarmung andere. Beide Fraktionen aber dürften zu dem selben Schluss gelangen, dass ein Homo singularis den Zustand verschärfter Vereinzelung irgendwann irgendwie kompensieren muss. Durch Krankheit. Durch Sucht. Durch Macht. Durch einen Anruf bei der Telefonseelsorge oder eben durch Placebos. Oder durch käuflich zu erwerbende Sozialstrukturen, bislang wahrscheinlich die progressivste Lösung, um menschliche Nähe wieder herbeizuzüchten.

      Wächst das Phänomen insgesamt weiter an, dürften die Auswirkungen so unabsehbar wie gravierend ausfallen. Was geschieht, wenn sich nicht nur in Europa zehn, zwanzig, dreißig, sondern am Ende Hunderte Millionen von Menschen auf der ganzen Welt einsam fühlen? In welche Richtung fliegen wir, wenn die Zäsuren immer filigraner ausfallen und das Gemeinwesen zersieben? Wenn der Bürger zu einem abgenabelten Argonauten wird, der in seiner Raumkapsel durch die Neerströme der Moderne irrt? Wenn sogar Randgruppen zu Randpersonen zerfallen?

      Einige der Effekte bekommen wir bereits zu spüren: Nichtsolidarität, Misstrauen, Fremdenfeindlichkeit, Neidkultur, Abstiegsängste. Angestachelt durch Globalisierung und Digitalisierung, gespeist durch eine unmündige Individualisierung führt die versammelte Vereinsamung letztlich zu noch viel drastischeren Auswirkungen: Zu einer politischen Radikalisierung, zum Erodieren der Demokratie.

      Spätestens dann wird Einsamkeit zur Gefahr. Zum Symptom wie gleichermaßen zur Ursache einer segmentierten und sich weiter segmentierenden Gesellschaft. Der afroamerikanische Historiker Eddie Glaude beschreibt es im Fall der USA. Nach dem gewaltsamen Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der in Minnesota unter dem Knie eines Polizisten starb, sagte Glaude: »Unser System hat eine enorme Ungleichheit hervorgebracht, hat uns alle zu selbstsüchtigen Menschen gemacht, die sich nur um Wettbewerb und Rivalität kümmern, es hat den Begriff des Gemeinwohls vernichtet und den Sinn eines sozialen Sicherheitsnetzes zerrissen.«

      Im kranksten Fall gehen aus einer solchen Segmentierung Amokläufer, Todesschützen und Selbstmordattentäter hervor. Das Ende brutaler Vereinzelungsspiralen, deren Zeuge die Welt in letzter Zeit immer öfter wurde. Bei den Massenerschießungen und Attentaten

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