Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert
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Es ist weit nach Mitternacht, als ich beschließe, nach Hause zu gehen. Die Nacht ist immer noch hellwach, einige sind schon verschwunden, viele werden ihr verhaftet bleiben. Am Tresen werden Drinks gereicht, hinten in den Sesseln liegen Köpfe auf Schultern, Ohrringe blitzen. Als Letztes höre ich noch Yehonathans Stimme, die sagt, dass Nachbarn sich beschwert hätten. Zu laut, zu voll. Viel zu schrecklich laut und vergnügsam ist diese Nacht nahe der Torstraße.
Ich hatte mich verabschiedet, es ging schnell und leicht, fast ungesehen. Jetzt schlendere ich noch ein wenig durch die Nacht. Es war nichts Außergewöhnliches, denke ich. Es war jetzt normal. Zeitenusus. Ich sehe einen Imbiss, einen Penner, den Himmel. Der Himmel ist nicht schwarz, er ist orangefarben erhellt von den Millionen Megawatt der Stadt. Auf dem Weg nach Hause passiere ich den Alexanderplatz. Ein bisschen still ist es hier, die Häuser wie Schatten, der Turm wie eine Nadel, das Pflaster eben und dunkel. Ich sehe kaum Menschen, erkenne nur Umrisse in der Nacht, in der die Reklamen stoisch leuchten. Unverhohlen verlassen wirkt die große Stadt zu dieser Stunde, unverhohlen groß und leer und hohl. Das Gesicht der Maskerade.
Ich muss an Alfred Döblin denken. Diesen Psychiater, diesen Worteerfinder. Berlin, Alexanderplatz. Muss an Biberkopf denken, die tragische Romanfigur, die in der Irrenanstalt landet. Döblin, der Verrücktgewordene. Ließ seine Zeilen von der Reizüberflutung handeln, ließ sie von Lärm sprechen und Anonymität, von geisteskranken sozialen Verwerfungen in Folge des industriellen Aufbruchs. Wie lange ist es nun her, dass er diesen Klassiker der Literatur aufs Papier dachte? Wie lange ist es her, dass es immer feiner, immer internationaler, immer schneller, immer subtiler, immer schlimmer geworden ist? Leben in der Dystopie. Wie flieht man aus der Flüchtigkeit?
Nicht einmal ist an diesem Abend das Wort gefallen. Das fällt mir nicht erst jetzt ein, es fiel mir die ganze Zeit auf. Den ganzen Abend über, während jeden Glases, während jeder Zigarette und während jeden Dialogs war es anwesend, das Thema dieser Zeit. Die Einsamkeit. Und doch vermieden wir das Wort, verschwiegen es hochprofessionell. Ja, wir umschifften es wie einen fürchterlichen, unaussprechlichen Felsen, vergaßen es vor lauter Musik und Spaß, vor lauter Abgeschnittenheit, vor lauter Leichtigkeit, vor lauter Privilegien, vor lauter Flexibilität, vor lauter Feigheit.
Ich ging noch ein wenig, bevor ich zu Hause ankam. Nein, nicht einmal war das Wort gefallen, nicht einmal während unseres gemeinsamen Abendessens. Ich überlegte kurz. Zu unaussprechlich mächtig lag es wohl über diesen Zeiten.
Es fängt an: Die vereinzelte Gesellschaft
Einsamkeit kennt viele Formen. In den modernen kapitalistischen Gesellschaften haben sie inzwischen zu einer kollektiven Vereinzelung geführt. Experten sprechen von einem Phänomen, das sich ausweitet wie eine Epidemie: Allein in Deutschland sagen 14 Millionen Menschen, dass sie sich einsam fühlen. Und spätestens seit Corona ist das Gefühl der Isolation zum globalen Status quo geworden.
Wenn ich in die Suchmaschine die Worte »einsam« oder »allein« eingebe, spuckt das Internet in weniger als einer halben Sekunde bis zu 160 Millionen Ergebnisse aus. Ich klicke auf Bilder. Sekunden später darf ich mir anschauen, was wir uns offenbar unter diesen Begriffen vorstellen. Was die Filter und Algorithmen uns vor Augen halten, wenn es um das Thema Einsamkeit geht.
Ich sehe einen Herrn mittleren Alters, der allein auf einer Bank sitzt und aufs Meer blickt. Eine Frau, die unter ihrem Regenschirm auf einem Steg steht und aufs graue Wasser schaut. Da ist ein Mann, er hockt auf seiner Fensterbank, starrt verloren auf das Häusermeer zu seinen Füßen. Da ist eine Frau, allein auf ihrem Bett, die Beine angezogen, die Arme über den Knien verschränkt. Ich sehe eine Seniorin in ihrem Sessel sitzend, deren Blick durch ein offenes Fenster in die Leere fällt. Weiter unten spiegelt sich das Gesicht eines jungen Mädchens in einer Scheibe, der Blick traurig, melancholisch. Es sind gängige Szenen der Einsamkeit. Eine Verlorenheit, die uns anspringt.
Scrolle ich weiter runter, sind Leuchttürme auf menschenleeren Inseln zu sehen. Alsbald: Liegengelassene Teddybären, verlassene und vom Regen nasse Straßen, der Mond, Millennials, die sich eine Plastiktüte über den Kopf ziehen. Die Bilder zeigen mir Zäune, Barrieren aus Draht, geisterhaft verlassene Rolltreppen und einen nackten Stein, auf den jemand mit Farbe geschrieben hat: »Corona ist doof«.
Noch weiter unten wird mir ein Poster dargeboten, das die Vorstellungen von Einsamkeit typographisch darstellt. Es stehen dort groß die Worte: »Verschlossenheit«, »Verlassensein«, »Isolation«, »Solitüde«, »Wüste«, »Einsiedlerleben«. Dann wieder kommen zahllose Bilder von Frauen und Männern, die zu Hause in ihren Wohnungen allein auf den Fluren sitzen, barfuß oder in dicken Socken, flankiert von blanken, möbellosen Wänden. Plötzlich das graphische Motiv einer Statistik: Frauen (42,4 Prozent) würden sich häufiger einsam fühlen als Männer (29,5 Prozent). Ich wische weiter nach unten, bekomme nun einige Sinnsprüche präsentiert.
Ich lese: »Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise am Herzen, bis es bricht.« Ich lese: »Einsam heißt nicht, dass man keine Freunde hat, die für einen da sind. Einsam heißt, dass fehlt, was das Herz glücklich macht.« Plötzlich ein Zitat von Wilhelm Busch: »Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut.« Kurz darauf dieser Aphorismus: »Begegnest Du der Einsamkeit, habe keine Angst! Sie ist eine kostbare Hilfe, mit sich selbst Freundschaft zu schließen.«
Ich sitze da und denke: Ja, was denn nun? Und surfe noch etwas weiter durchs Ergebnismeer.
Ein Mann ohne Augen. Ein Heißluftballon über den Wolken. Ein Teenager, vergraben in seinem Hoodie, seinem Kapuzenpulli. Ich sehe, noch weiter nach unten scrollend, eine graphisch dargestellte Waagschale, auf der die Begriffe »Äußere Auslöser« und »Innere Ursachen« schwerer wiegen als jener der »Inneren Stärke«. Ich erkenne das symbolträchtige Bild des einsamen Poeten. Eine Schreibmaschine, ein weißes Blatt Papier. Darauf einzig die Worte: »Die Einsamkeit.« Vielleicht ist es der Beginn eines Romans, vielleicht nur das inszenierte Motiv einer Bildagentur.
Als Nächstes bieten mir die Suchergebnisse: Zwei Schienen, die ins Leere führen. Dann entdecke ich ein Gemälde von Marc Chagall, Solitude von 1933. Öl auf Leinwand, 1×1,69 Meter groß. Laut Beschreibung ein Sinnbild kultureller Entfremdung, dargestellt durch einen Rabbiner, eine Geige spielende, einäugige Ziege und einen Engel mit Flügeln vor einem dunkel verrauchten Dorf. Menschen auf der Flucht, offenbar auch ein Inbegriff der Einsamkeit.
Ich scrolle noch weiter nach unten. Lese auf einem Bild den Satz: »Es ist schon eigenartig, wie wir es genießen, allein sein zu können, aber daran verzweifeln, wenn wir allein sein müssen.« Ich sehe dann noch dies: Einen winzigen Mann auf einem gottverlassenen Parkplatz, einen Rentner am Stock, eine Frau auf einer Schaukel, sitzend und sinnierend vor einem spiegelglatten See. Und sie alle wenden uns den Rücken zu.
Doch dann erschöpft es sich langsam. Dann wiederholen sich die Motive, die Bilder, die Ideen. Ab einem gewissen Punkt, so scheint es, kommen die Vorstellungen von Einsamkeit an eine Grenze. Ich sehe, ganz unten, noch eine skizzierte Cloud, lese von »digitaler Einsamkeit«. Danach aber bietet unter den Hunderten von Suchergebnissen nur noch ein fauler Zynismus Abwechslung. Ich blicke auf die Vergrößerung eines haarigen Milbengesichts und lese: »Wenn Du einsam bist, besinne Dich Deiner garantierten Freunde – sie leben zu Millionen auf deiner Haut.«
Die Seite ist zu Ende. Und nun sehe ich mich selbst. Wie ich mitten in Berlin in der U-Bahn sitze, allein unter vielen, versunken in mein mobiles Display.
Einsamkeit