Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert
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Schon beim ersten Betrachten wird klar, dass das Thema Gewicht hat. Dass der Begriff der Einsamkeit zudem keineswegs leicht zu definieren ist, dafür umso schneller in Gemeinplätzen und Klischees versandet.
Eindeutig sind hingegen Zahlen. Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Splendid Research fühlt sich in Deutschland jeder Sechste häufig oder gar ständig einsam – und damit ist nicht die schöne Spielart der Einsamkeit gemeint. Fast 14 Millionen Menschen, allein hierzulande, die vielmehr das sind, was der Duden so definiert: »Für sich allein«, »verlassen« oder »ohne Kontakte zur Umwelt«. Ein verstörender Zustand. Und ein verstörender Wert. Zum Vergleich: Die Zahl der so begriffenen Einsamen ist damit doppelt so hoch wie die der Diabetiker im Land, weit höher auch als jene der Herzkranken und sogar gut siebenmal höher als die der Demenzkranken in Deutschland.
In vielen anderen Ländern kommen die Umfragen zu keinem ermutigenderen Ergebnis. In einer Umfrage der Europäischen Kommission von 2018, also vor Corona, wurden über 28000 Menschen aus ganz Europa gefragt, ob sie sich in der vorangegangenen Woche einsam gefühlt hätten. Das Ergebnis: In Bulgarien waren die meisten Menschen von Einsamkeit betroffen. 20 Prozent der Befragten fühlten sich dort meistens, fast immer oder immer einsam. In sieben weiteren Ländern erging es mindestens zehn Prozent der Befragten ebenso. Nur in den Niederlanden waren es mit drei Prozent deutlich weniger. Der Gesamtdurchschnitt derjenigen, die sich meistens oder immer einsam fühlten, lag bei acht Prozent. Auf die Gesamtbevölkerung der EU von 2018 hochgerechnet, entspricht das etwa 41 Millionen Menschen. Allein über sechs Millionen davon sollen es in England sein. Gut und gern 20 Millionen außerhalb Europas in Japan, weit über 30 Millionen in den USA. Wie der nichtkommerzielle Hörfunksender NPR berichtet, geben in den Vereinigten Staaten sogar drei von fünf Amerikanern an, einsam zu sein. »Mehr und mehr Menschen sagen, dass sie sich ausgeschlossen und unverstanden fühlen«, schreiben die Autoren einer Studie, die im Auftrag des Versicherungsunternehmens Cigna gemacht wurde. Zudem fehle es ihnen an companionship, an Gesellschaft. Und seit 2018 ist die Zahl all jener, die sich sozusagen »außen vor« fühlen, noch einmal um 13 Prozent gestiegen.
Forscher und Ärzte sprechen längst von einer Epidemie der Einsamkeit. Und obwohl »Einsamkeit« nach wie vor ein schwammiger Begriff ist und bis heute von den meisten Menschen kaum als genuines Problem erkannt und eingestuft wird, meinen die Forscher damit sogar einen Zustand, der nicht nur traurig und bemitleidenswert ist, sondern der sogar krank macht.
Der Mediziner Vivek Murthy diente unter Präsident Barack Obama als Surgeon General of the United States, war verantwortlich für die wichtigen Fragen der US-amerikanischen Gesundheit. Seine Erfahrungen fasste er jüngst wie folgt zusammen: »Während all meiner Jahre als Arzt waren es weniger Herzattacken und Diabetes, die für den Zustand der meisten Patienten verantwortlich waren. Es war ihre Einsamkeit.« Und wenn Murthy von einer crisis of loneliness spricht, meint auch er eine Angelegenheit, die längst ganze Gesellschaften betrifft.
In der Tat: Eine seltsame und neue Form der Vereinsamung wird zusehends zu einem modernen Phänomen. Zu einem Grundzustand vieler Menschen, der zunächst wenig greifbar, dafür aber umso drängender zu spüren ist.
Und dabei reicht es nicht mehr, sich auf alte Muster und Vorstellungen von Einsamkeit zu berufen, wie sie sich etwa in den stereotypen Motiven der Suchergebnisse zeigen. Die Seniorin, die schweigend auf der Parkbank sitzt. Der einsame Rentner in seiner stillen Wohnung. Die Frau im Regen. Oder auch die berühmte einsame Insel.
Auch genügt es nicht mehr, sich auf gängige Konnotationen zu berufen, wenn wir statt von Einsamkeit einerseits etwa von Ruhe und Besinnung sprechen, andererseits von Kontaktarmut, Isolierung, Verlassenheit oder sozialer Ausgrenzung. Vielmehr gilt es, die Merkmale und Bedingungen der neuen Einsamkeit differenzierter zu betrachten und feiner zu bemessen, also ganz neu zu begreifen und dann präziser zu definieren. Denn ein diffuses Gefühl von meist negativer Einsamkeit zieht sich inzwischen durch alle Milieus und betrifft die meisten Altersgruppen. Einsam fühlen sich nicht mehr vorrangig Senioren, verwitwete und arme Menschen, sondern zunehmend auch arbeitende Bürger, zunehmend auch jene Frauen und Männer der digitalen Generationen, die ja eigentlich inmitten eines sozial vernetzten, durchlässigen, mobilen Lebens stehen.
Das Phänomen der Einsamkeit, dem wir heute gegenüberstehen, ist komplex und vielschichtig. Globalisierung und Individualisierung haben zu ganz neuen Formen der Isolation geführt. Die digitale Welt und die neuen Technologien befeuern dies, und das beschleunigte und mehr und mehr kompetitive Leben macht es augenscheinlich nicht leichter.
Was geschieht, wenn das Mobiltelefon in die Hosentasche rutscht, ich die Treppen der U-Bahnstation hinaufsteige und auf die Straße hinaustrete? Ich sehe die Menschen – denn sie sind überall. Sie sitzen in den Bars, bummeln durch die Stadt, flitzen zum Bus, warten auf ihr Uber, kommen von der Arbeit, gehen zur Arbeit. Sie sitzen in ihren Wohnungen, in ihren Autos, kommen vom Einkaufen, fahren nach Hause. Vielleicht wollen sie ins Kino, ins Theater, zum Sport. Vielleicht haben sie einen Termin, holen gerade die Kinder ab, wollen zu einer Veranstaltung. Ein einziges Gewusel, wie Ameisen sind sie stets ziel- und zweckgerichtet unterwegs.
Über 3,6 Millionen Menschen leben in Berlin, das sind über 4000 pro Quadratkilometer. Was für ein herrliches Durcheinander, was für ein erstaunliches Miteinander. Aber ist es das wirklich? Leben wir wirklich noch die Idee des Gemeinwesens, so wie es die verdichtenden Räume von Gemeinden, Landkreisen, Kommunen und Städten eigentlich verlangen – egal, wie vielstimmig und divers vor allem Letztere sich inzwischen entwickelt haben? Sind wir wirklich auch so verbunden, wie es uns das Internet, die sozialen Medien gern suggerieren? Sind wir die Community, die uns das World Wide Web so lieblich verheißt? Und bilden wir am Ende wirklich noch die Gesellschaft, wie sie in der Soziologie definiert ist: Sind wir eine durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste Anzahl von Personen, die als sozial Handelnde miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt sozial interagieren?
Oder sind uns die verbindenden Elemente eher abhandengekommen? Fehlen uns womöglich gemeinsame Themen? Sitzen wir in unterschiedlichen Blasen und findet jeder heute zunehmend in seiner eigenen, aus beinahe unendlichen Möglichkeiten zusammengebauten Biographie statt? Ist da letztlich eine längst überholte Idee des Gemeinwesens am Bröckeln? Ein Miteinander, das gerade auf tausendfach verzweigten Wegen auseinanderfällt?
Schon beim Essen – eigentlich Paradebeispiel für soziales Miteinander – sind Kategorien populär geworden, die mehr trennen als einen. Und oft sogar einen Dissens eröffnen. Auf der einen Seite stehen die Veganer und Vegetarier, auf der anderen die Fleischliebhaber und Genießer alter Schule, die dem Essen weiterhin unverändert frönen wollen. Allein die Vielzahl an kursierenden Sprüchen zeigt, dass hier Fronten entstanden sind. »War kurz davor, Veganer zu werden, habe gerade noch mal Schwein gehabt«, lautet einer davon. Ein nächster: »Wenn alle Tiere ausgestorben sind, dann fressen wir die Vegetarier!« Die andere Fraktion kontert auf ihre Weise, fragt die Fleischesser, was sie als Außenstehende zum Thema Intelligenz zu sagen haben.
Das Essen ist zur politischen Gesinnungsfrage geworden. Zum Etikett, ob einer zu den Guten gehört, die die Welt retten wollen, oder zu den Bösen, die sich um nichts scheren. Gräben sind entstanden, wo eigentlich doch alle an einem Tisch sitzen sollten – um sich in aller Gegensätzlichkeit zuzuprosten. Nach