Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert
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Wenn Psychologen schon ab fünfzehn Geschenkschachteln von einer zunehmenden Qual der Wahl sprechen – müsste im heutigen Infinitum der Möglichkeiten nicht längst von einer Pein der Beliebigkeit die Rede sein? Von einer Ohnmacht im Zeitalter des Übermaßes? Mithin von einer Überforderung und lostness, die längst auch zu einer ganz neuen und viel abstrakteren Erscheinungsform von Einsamkeit geführt hat?
Denn einsam ist der Mensch nicht nur unter Menschen. Er wird es irgendwann auch unter einer Überdosis der Reize.
Laut Beobachtungen von Fachleuten wie etwa dem Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff hat die digitale Überflutung bereits zu einer kollektiven Schädigung der Psyche geführt. In seiner Praxis erlebe er schon seit Mitte der neunziger Jahre, dass sich immer mehr Kinder nicht mehr altersgerecht entwickeln. Und diese Veränderung sei inzwischen auch bei den Erwachsenen angekommen.
Die Menschen fühlen sich überfordert. Der Wechsel von der analogen in die digitale Welt hat das Leben extrem beschleunigt, mit Reizen und Informationen regelrecht überfrachtet. Das Gefühl, ständig unter Strom zu stehen, ist dabei zu einem unterschwelligen Dauerzustand geworden. Der Psychiater Winterhoff führt dies wesentlich auf die pausenlose und flächendeckende mediale Belieferung auf allen Kanälen zurück, die durch das Smartphone auf die Spitze getrieben wird.
Der Mensch lenkt sich durch diesen Dauerbeschuss am Ende von sich selbst ab, sagen Psychologen. Die Einheit von Körper, Seele und Geist wird gestört. Ursache und Symptom gleichermaßen: Denken und Fühlen klaffen auseinander, die sinnliche Verarbeitung der Umwelt scheitert zunehmend. Des Weiteren: Lernprozesse sind nicht mehr mit haptischen, körperlichen und sinnlichen Erfahrungen verknüpft, vermeintliche Belohnungen dafür ohne jede Anstrengung, ohne Kompromiss und Reflektion zu haben.
Zu was mag das führen? Schwindet da womöglich sogar die innigste Form der Zweisamkeit? Findet der Mensch nicht mehr zu sich selbst, wie man so schön sagt?
Nun, dass er sich zumindest von seiner Umwelt systematisch und massenhaft abschottet, müssen Studien gar nicht erst zeigen. Die Indizien dafür sind überall zu sehen: Auf den Straßen, in den U-Bahnen, an den Flughäfen. EarPods sind zur Grundausstattung geworden wie die Unterhose und zugleich zum ostentativen Schmuckstück der kollektiven Abgrenzung. Kabellose Abkapslungs-Gadgets, die es deutlicher kaum sagen könnten: Lass mich in Ruhe. Kontakt unerwünscht. Hier bin ich, ihr seid dort.
Wie würde ein Edward Hopper diesen Menschen heute wohl malen? Vielleicht würde er ihn zerstückeln. In Bits, in Atome. Vielleicht würde er ihn inzwischen auch einfach weglassen. Eine letzte Steigerung der Vereinzelung. Das Verschwinden.
Allemal klar ist, dass wir unser generelles Verständnis von Einsamkeit radikal updaten müssen. Denn so schnell wie wohl nie zuvor modifizieren die technologischen Innovationen gerade unseren Alltag und greifen in grundlegende Parameter unseres Lebens ein. Dabei treffen auch unsere Emotionen auf völlig neue Koordinatensysteme, und es stellt sich die Frage, ob sie schnell genug mitkommen. Ein weiteres Beispiel verdeutlicht das.
Lange war das zugängliche Weltwissen äußerst überschaubar. Laut Schätzungen brauchte es von 1400 bis 1900 gut und gern 500 Jahre, bis sich die Menge an menschlichem Wissen gerade einmal verdoppelte. Dichter und Denker, Philosophen und Gelehrte konnten guten Gewissens behaupten, so ziemlich alle wichtigen Werke zu kennen und sich mit den grundlegenden Theorien in den jeweils aktuellen Wissensgebieten befasst zu haben. Was nicht heißt, dass alle Menschen gleich viel wussten. Lange hatten die Gelehrten ihr Wissen geflissentlich für sich behalten, und vor Luther taten Priester und Mönche einen Teufel, das hehre Wissen aus den Büchern mit der Allgemeinheit zu teilen.
Bis ins 20. Jahrhundert wuchs das Wissen, befördert durch den Buchdruck, schließlich stetig weiter an, war inzwischen für mehr Menschen zugänglich und nun bereits deutlich schneller. Das dem Menschen zur Verfügung stehende Gedankengut verdoppelte sich abermals: Von 1900 bis 1950 nunmehr allerdings in 50, von 1950 bis 1970 in nur noch 20 Jahren. Bis in die neunziger Jahre kamen aus vielen Bereichen immer mehr Mengen an Wissen hinzu, allerdings noch immer auf überschaubare Weise. Bildungsbürger kauften Bücher, besuchten Vorlesungen und Bibliotheken. Es gab Gebildete und weniger Gebildete, wie schon immer, aber doch lebte jeder mit dem beruhigenden Gefühl, dass es eine Art Grundausstattung an Wissen gab, mit der man halbwegs anständig durchs Leben kam. Um sich aktuell zu informieren, las man Zeitungen und Magazine, schaute abends die Nachrichten.
Noch 1999 veröffentlichte der Hamburger Literaturprofessor Dietrich Schwanitz das Buch Bildung. Alles, was man wissen muss. Ein gut verdaulich dargebotener Rundgang durch Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst und Musik, nach dem sich der Leser wissend genug fühlen durfte, um Historie und Gegenwart einzuordnen, Zusammenhänge zu verstehen und die Zukunft denkend mitzugestalten. Dieses Wissen bildete eine solide Grundlage, zudem existierte der sogenannte Bildungskanon: jener Wissensfundus, den eine Kultur für wichtig erachtet, damit eine Gesellschaft gemeinsam funktioniert. Das geht schon in der Schule los: Mit Lesen, Mathe und einer ersten Portion Sachkunde in verschiedenen Gebieten.
So weit, so gut. Doch nun ging die Post ab.
Mit Beginn des 21. Jahrhunderts verdoppelte sich die Menge an Wissen abermals, inzwischen in nur noch drei Jahren, wie das McKinsey Global Institute ermittelte. Doch es geschah dabei nun noch etwas: Die qualitative Vorstellung von Wissen wurde zunehmend durch die quantitativen Konzepte der Nachrichten, Informationen und Daten ersetzt. Und diese Nachrichten, Informationen und Daten vervielfachten sich immer schneller. Und sie tun dies bis heute, inzwischen in viralem Tempo. Das Wissen an sich hat sich also verändert.
Der Rest ist Geschichte. Eine Geschichte wohlgemerkt, der wir im Moment ihres Entstehens schon nicht mehr hinterherkommen. Das ist im Prinzip nichts Neues. Neu aber sind die tatsächlichen Geschwindigkeiten und Massen, mit denen gerade jenes neue »Wissen« produziert und auch ausgetauscht wird.
Früher sagte man noch: Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Es klingt heute geradezu possenhaft. Längst müssten wir sagen: Nichts ist älter als die News von vor zwei Minuten, der Tweet der letzten Sekunde. In den USA kam es schon vor Jahren zu einer Formulierung, mit der man der Informationsflut beikommen wollte: Breaking News. Neueste Nachrichten, die hindurchbrechen durch die, die gerade noch aktuell gewesen sind. Und auch dies ist längst kalter Kaffee.
Inmitten dieses Wirbelwinds sind heute auch Lexika allseits und online mit einem Fingerwisch abrufbar, generieren und schreiben sich durch die User selbst fort. Es existieren Datenbanken, Mediatheken, Streams und Podcasts, im Netz steigen Webinars und Coachings, es tummeln sich dort Udemys und ganze Plattfomen, um die Zahl der weltweiten Online-Kurse überhaupt noch irgendwie zu bündeln.
Kurz: Das Wissen zischt nur noch so durch die Weltgeschichte, es multipliziert sich mit sich selbst, und dabei hat sich auch seine Lesart maßgeblich verändert. Vor allem der auf Effizienz und Profit gedrillte Begriff der Datenmenge ist zur himmlischen Größe angeschwollen, und immer wieder stehen wir kurz davor, das Zeitalter der KI, der Künstlichen Intelligenz, zu verkünden. Big Data macht es möglich, und in Bälde werden Quantencomputer es sehr wahrscheinlich Wirklichkeit werden lassen.
Sicher müsste man die Kategorien erst einmal definieren und scharf voneinander trennen: Wissen und Bildung, Nachrichten, Informationen, Daten. Was ist genau gemeint? Beginnt Bildung bei Sokrates, hört Wissen bei der jüngsten Veröffentlichung zur T-Zellen-Forschung auf? Muss einer Kant gelesen haben, um schlau zu sein? Oder ist er heute schlauer, weil er sich mit den neuesten Technologien in Sachen Klimaschutz auskennt?
Fest steht in jedem Fall, dass jene romantischen Zeiten vorbei sind, in denen wir einen