Verschwundene Reiche. Norman Davies

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Verschwundene Reiche - Norman Davies

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letzte katalanische Erbin der Provence dieselbe Mitgift in ihre Ehe mit einem angevinischen Gemahl ein, was den Anfang einer Linie von Grafen darstellte, die Vasallen des französischen Königs waren (siehe dazu S. 200).77

      Die Erosion setzte sich fort. Im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts eroberten die Franzosen während des Kreuzzugs gegen die Albigenser die Languedoc und fassten dadurch auf dem rechten Ufer der Rhône Fuß. Unter König Ludwig dem Heiligen (reg. 1226–1270) begannen sie mit der Einrichtung eines Außenpostens an der Mittelmeerküste bei Aigues-Mortes, was zur Gründung eines Kreuzfahrerhafens führen und ihre Kontrolle über das untere Rhône-Tal festigen sollte.78 Im Jahr 1229 gelang es Agenten des französischen Königs, den Bischof von Vivarium (Vieviers) zu stürzen und einen französischen Brückenkopf am Fuße der Cevennen zu errichten.79 Das Comtat Venaissin auf dem gegenüberliegenden Ufer, das seinen Namen von der kleinen Stadt Venasque ableitete, wurde von seinem kinderlosen Eigentümer 1274 als Geschenk dem Papst hinterlassen. Die Enklave Avignon innerhalb des Comtat wurde 1348 an einen im Exil weilenden Papst verkauft.80 Die benachbarte Grafschaft Aurasion (Orange) genoss den Status eines autonomen Fürstentums unter den Grafen von Baux, die bekannt wurden durch ihre Auseinandersetzungen mit den Grafen der Provence, die sogenannten »Bausseneque-Kriege«. Ihre Hinterlassenschaft fiel schließlich an das französische Haus Chalon.81

      Lugdunum (Lyon), die bedeutendste Stadt im Rhône-Tal, entwickelte sich unterdessen zu einer herausragenden Handelsmetropole. Mit ihren Jahrmärkten, die von zahlreichen italienischen Kaufleuten besucht wurden, bildete sie eine Drehscheibe des Handels zwischen dem nördlichen und dem südlichen Europa. Zunehmend jedoch begann sich Frankreich auch aus strategischen Gründen für die Stadt zu interessieren. Im 13. Jahrhundert war Lyon vor allem ein sehr bedeutender Erzbischofssitz. Hier fanden zwei Kirchenkonzile statt. Auf dem Konzil im Jahr 1245 wurde Kaiser Friedrich II. exkommuniziert und abgesetzt. Am zweiten Konzil in Lyon im Jahr 1274 nahmen 500 Bischöfe teil. Die Päpste leiteten diese Konzilien persönlich, und 1305 wurde Papst Klemens V. in Lyon gekrönt. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass der Erzbischof von Lyon, Béraud de Got, der Bruder des neuen Papstes war.

      Die Absetzungsbulle von Papst Innozenz IV., in der die Exkommunikation von Friedrich II. bekräftigt wurde, nahm kein Blatt vor den Mund:

      … Wir können seine Ungereclitigkeiten niclit länger dulden, ohne Christus schwer zu beleidigen, und der Druck unseres Gewissens zwingt uns, ihn gerecht zu bestrafen. Um seine anderen Vergehen beiseite zu lassen, vier äußerst schwere Verbrechen hat er begangen, die mit keiner Ausflucht zu leugnen sind. Er hat mehrfach Meineid geleistet; er hat den Frieden … zwischen Kirche und Reich … willkürlich gebrochen; er hat sogar das Sakrileg begangen, Kardinäle der heiligen römischen Kirche sowie Prälaten und Kleriker … anderer Kirchen gefangensetzen zu lassen, die auf dem Wege zum Konzil waren …; auch der Ketzerei wird er nicht aus zweifelhaften oder geringfügigen, sondern aus schwerwiegenden und eindeutigen Gründen verdächtigt … Daher haben wir offengelegt, dass der genannte Fürst, der sich des Kaisertums, der Königreiche und aller Ehre und Würde so unwürdig erwiesen hat und der wegen seiner Ungerechtigkeiten von Gott verworfen wurde, damit er nicht regiere und nicht herrsche, befangen und verworfen ist aufgrund seiner Sünden … Wir zeigen dies an und entheben ihn … kraft unseres Urteils und kraft apostolischer Autorität verbieten wir streng, dass irgendjemand ihm fürderhin wie einem Kaiser oder König gehorcht … Diejenigen aber, denen in diesem Reiche die Wahl des Kaisers zusteht, sollen in freier Wahl einen Nachfolger bestimmen … Gegeben zu Lyon, am 17. Juli (1245), im dritten Jahr des Pontifikats.82

      Ein solches Dokument hätte niemals formuliert und verlesen werden können, wenn der Kaiser auch nur noch begrenzten Einfluss in dieser nominell nach wie vor zum Reich gehörenden Stadt ausgeübt hätte.

      Lyon dagegen wurde von inneren Machtkämpfen zerrissen und hatte daher französischen Ränkespielen nicht viel entgegenzusetzen. Der Erzbischof befand sich ständig im Streit mit den Grafen von Lyonnais-Forez und mit den Patriziern der Stadt. Als die Franzosen zuerst den Grafen auf ihre Seite zogen und dann auch die reichen Bürger, geriet der Erzbischof in eine aussichtslose Lage. Im Jahr 1311 nahmen französische Truppen die Stadt ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Der Erzbischof durfte seinen Ehrentitel »Primas der Gallier« behalten, doch die Macht ging auf eine Stadtverwaltung aus gewählten Konsuln über, die ihre Maßnahmen von den Franzosen billigen lassen mussten.84

      Die Dauphiné, für die sich Frankreich ebenfalls interessierte, kontrollierte die Straße nach Italien über den Mont Cenis. Doch die Grafen von Albon/Vienne, die Grenoble und die Umgebung des Passes besaßen, hielten sich bis 1349, als sie ihr Gebiet schließlich in einer privaten Transaktion an den König von Frankreich verkauften. Fortan wurde der Titel des Sohnes des Königs und Thronfolgers, des »Dauphin«, von diesem Territorium abgeleitet (ob es weiterhin de jure zum Heiligen Römischen Reich gehörte, ist umstritten).85

      In diesem Stadium war das Königreich Burgund schon beträchtlich geschrumpft. Jene Teile, die an Deutschland grenzten, wie Basel und Bern, befanden sich noch unter der Kontrolle des Kaisers. Doch alle Gebiete, die an Frankreich angrenzten, entzogen sich seinem Einfluss. Die deutschen Kaiser fanden sich damit ab. Sie verzichteten zwar nicht förmlich auf ihren Anspruch auf das Königreich, doch nach Konrad IV., der 1254 starb, führten sie den burgundischen Königstitel nicht mehr.

      Die politische Zersplitterung sollte sich weiter beschleunigen, doch dieser gängige Begriff wird den komplizierten Prozessen, die sich hier vollzogen, nicht gerecht. Denn nachdem die überkommenen staatlichen Einheiten zusammengebrochen waren, entstanden neue Gebilde, häufig unter Missachtung bestehender staatlicher Grenzen. Heiraten, Brautgaben, Eroberungen und Nachlässe führten zu einer ständigen Abfolge von Zusammenschlüssen, Trennungen und Neugründungen. Der typische burgundische Graf war nicht mehr der Herr über ein direktes Lehen, das einem Oberherrn unterstand. Häufiger war er das Oberhaupt einer Reihe von Gütern, Titeln und Ansprüchen, die im Laufe von Generationen durch die vereinten Bemühungen der Ritter, der Frauen, Kinder und Anwälte seiner Familie entstanden waren.

      Bei den burgundischen Pfalzgrafen beispielsweise wurde das ursprüngliche Erbe wiederholt von einem politischen Bereich in einen anderen weitergegeben und durch Heirat von einer Familie zu einer anderen: Im Jahr 1156 fiel es an das deutsche Geschlecht Hohenstaufen, 1208 an das bayerische Haus Andechs und 1315 an das französische Königshaus. Jedes Mal fügte der Begünstigte die Titel und Besitztümer seiner Ehefrau seinen eigenen hinzu, wobei er manchmal den früheren Oberherrn anerkannte, manchmal auch nicht. Für adelige Stammbaumforscher trat 1330 ein wichtiges Ereignis ein, als Jeanne III. von Frankreich, die Gemahlin des Herzogs des französischen Burgund, von ihrer Mutter den Anspruch auf die zum Heiligen Römischen Reich gehörende Freigrafschaft Burgund erbte. Das französische Herzogtum und die deutsche Grafschaft standen damit vor einer dauerhaften Vereinigung. Im Zuge der verwirrenden burgundischen Erbfolge (siehe unten) bemühte sich Margarete, die Freigräfin von Burgund (1310–1382), eine Tochter des französischen Königs, diesen Zusammenschluss zu beschleunigen. Im Jahr 1366 begann sie, ohne besonderen rechtlichen Grund, in ihren Urkunden und Dokumenten den Begriff »France-Comté« (sic) zu verwenden und ließ die traditionelle Bezeichnung »Grafschaft Burgund« fallen. (Damit griff sie das Beispiel von Rainald III. auf, der sich als franc comte

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