Verschwundene Reiche. Norman Davies
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Kaum ein Fachhistoriker dürfte wohl der Einschätzung widersprechen, dass das Hochburgund des 10. Jahrhunderts »einen der undurchsichtigsten Abschnitte der mittelalterlichen Geschichte« darstellte.A Rudolf II. (gest. 937), der einzige Sohn des Begründers des Königreiches, setzte sein Geburtsrecht aufs Spiel, als er sich in die Politik in Norditalien einmischte, in der viele gefährliche Fallstricke lauerten. Nachdem er 923 zum König der Lombarden gekrönt worden war, pendelte er eine Zeit lang zwischen St. Maurice und Pavia. Die italienischen Adeligen erhoben sich erwartungsgemäß gegen ihn und wollten Hugo von Arles, den Regenten von Niederburgund, an seine Stelle setzen. Im Jahr 933 fanden Rudolf und Hugo zu einer genialen Lösung. Rudolf anerkannte Hugos Anspruch auf Italien, wofür Hugo Rudolf als Monarchen eines vereinigten Königreiches aus Hoch- und Niederburgund vorschlug. Rudolfs Tochter heiratete Hugos Sohn, und vier Jahre später kam das glückliche Paar in den Besitz seines vereinten Reiches. Dieses zentrale Ereignis ist allerdings mit einigen Unklarheiten verbunden, da die Könige von Hochburgund abwechselnd Rudolf, Rudolphus, Ralf oder Raoul genannt wurden. Seltsam ist ferner, dass die Zählung der Herrscher nach der Schaffung des neuen Reiches bruchlos fortgesetzt wird. Aus dynastischen Gründen wird der erste Rudolf, der über das Reich der beiden Burgund herrschte, im Allgemeinen als Rudolf II. bezeichnet, was darauf hindeutet, dass es sich eher um eine Übernahme des Südens als um die Gründung eines neuen Reiches handelte.61
Für Verwirrung sorgt hauptsächlich die Einschätzung des politischen Kontextes des Vertrags von 933. In sämtlichen Kommentaren aus Burgund wird er als reines Tauschgeschäft zwischen zwei Herrschern dargestellt. Doch die Entwicklungen in Norditalien wurden in Deutschland stets sehr aufmerksam verfolgt, wo die Abmachungen zwischen Rudolf und Hugo das Misstrauen der Ottonen-Dynastie wecken mussten. Als die beiden burgundischen Herrscher ein enges politisches und verwandtschaftliches Bündnis schlossen, konnten ihre kaiserlichen deutschen Nachbarn nicht untätig zusehen:
Auf die Gefahr, die durch diese Allianz ausging, reagierte [Kaiser] Otto umgehend. Als Schutzherr von Rudolfs 15 Jahre altem Sohn Konrad marschierte Otto in Burgund ein ›brachte den König und das Königreich in seinen Besitz‹ und begegnete dadurch der Gefahr einer Vereinigung von Italien und den burgundischen Landen … Burgund wurde zwar erst 1034 formell mit Deutschland zusammengeschlossen, stand aber seit 938 unter deutscher Hegemonie.62
Der deutsche Faktor war das entscheidende Element bei der burgundischen Vereinigung. Die rudolfinische Dynastie durfte weiterbestehen, und der Zusammenschluss der beiden burgundischen Königreiche schritt voran. Doch der Kaiser hielt stets die Peitsche in der Hand. Wenn sie es für erforderlich hielten, konnten er oder seine Nachfolger das Arrangement rückgängig machen und die burgundischen Angelegenheiten zu ihrem eigenen Vorteil neu ordnen.
Im 10. Jahrhundert wurde allmählich die künftige Gestalt Europas sichtbar. Im Westen bildeten sich im Zuge der langwierigen Reconquista gegen die Muslime wieder christliche Staaten auf der Iberischen Halbinsel. Der erste König von Gesamt-England bestieg den Thron (siehe dazu S. 86). Unter Hugo Capet (reg. 987–996) und seinen Nachfolgern wurde das Westfrankenreich allmählich zu Frankreich umgestaltetB, und die drei ottonischen Herrscher von Sachsen formten jenen Staat, der im Laufe der Zeit zum Heiligen Römischen Reich werden sollte. Als die Erinnerungen an die Franken verblassten, verschwanden auch alte Namen wie Westfrankenreich oder Neustrien und Ostfrankenreich oder Austrasien und wurden durch Frankreich und Deutschland ersetzt. In Italien hatte der Papst sowohl politisch wie auch geistlich an Autorität gewonnen. Im Osten schwanden der Einfluss von Byzanz und der orthodoxen Kirche, und es entstanden neue Staaten. Nach den Ungarneinfällen 895 gingen die Jahrhunderte der Auseinandersetzungen mit den Barbaren in Europa schließlich zu Ende. Bulgarien, Polen, Ungarn und Rus sowie Frankreich, England und Deutschland waren die neuen politischen Akteure. Trotz seiner vielfältigen Wandlungen hatte Burgund mittlerweile ein stattliches Alter erreicht.
Obwohl willkürlich geschaffen, war das Königreich der beiden Burgund – Le Royaume des Deux Bourgognes –, das nach seiner Hauptstadt meist als »Königreich Arelat« bezeichnet wird, alles andere als ein künstliches Gebilde. Es bildete eine natürliche geografische Einheit, bestand aus dem Tal der Rhône und deren Nebenflüssen zwischen den Gletschern und dem Meer. Es beruhte auf dem historischen Burgund und besaß eine gemeinsame postlateinische Kultur. Im Norden verfügte es durch die »Burgundische Pforte« über einen Verbindungsweg zum Rheinland; im Süden war es über die Häfen Arles und Marseille mit Italien und Iberien verbunden. In geopolitischer Hinsicht lag es gewissermaßen im Windschatten jener Stürme, die über die Nachbarstaaten hinwegfegten. Die Zeichen standen gut für eine erfolgreiche historische Entwicklung. Das war das sechste burgundische Reich, gemäß der Auflistung von James Bryce war es Nr. V.
Im ersten Jahrhundert seines Bestehens konnte das Königreich Arelat jene dynastischen Krisen vermeiden, die vielen ähnlichen Staaten zu schaffen machten. Die zwei Nachfolger von Rudolf II., Konrad (reg. 937–993) und Rudolf III. (reg. 993–1032), lebten beide sehr lange. Konrads lateinischer Beiname Pacificus (»der Friedfertige«) klang nach mittelalterlichen Verhältnissen, als Könige per definitionem Kriegsherren waren, etwas abwertend, aber vielleicht tat man ihm damit auch ein wenig unrecht. Zutreffender wäre vielleicht die Übersetzung »der Feige« oder zumindest »der Unkriegerische«. Konrad scheute aber nicht vollständig vor dem Krieg zurück. Im Jahr 954 drangen gleichzeitig plündernde ungarische Horden und Sarazenen in sein Reich ein. Durch Gesandte bat er die Ungarn, ihm zu helfen, die Sarazenen zurückzuwerfen, zugleich aber flehte er die Sarazenen an, gegen die Ungarn vorzugehen. Dann wartete er ab, bis sich die beiden Feinde gegenseitig zerfleischten, und befahl schließlich dem burgundischen Heer, reinen Tisch zu machen. Im folgenden Jahrzehnt unternahm Konrad mehrere Feldzüge gegen sarazenische Siedlungen in der Provence. Man kann ihn daher am besten als einen König bezeichnen, der sowohl mit List und Tücke als auch mit dem Kampf vertraut war. Dass er sich 56 Jahre auf dem Thron halten konnte, war allein schon eine herausragende Leistung.
Konrads Reich ist ausführlich durch Münzen wie auch durch kirchliche Urkunden bezeugt. In Lugdunum wurde eine Bronze-Münze mit der Aufschrift CONRADUS geprägt. Konrad gründete 960 die Abtei Montmajour in Frigolet in der Nähe von Avignon und im Zeitraum bis 99363 das Kloster Darentasia (Tarentaise in Savoyen), dessen heutiger Name Moûtiers eine verballhornte Form von monasterium ist. Er war mit einer westfränkischen Prinzessin verheiratet, doch seine Herrschaft war in politischer Hinsicht zum einen durch ein feindseliges Verhältnis zu den Hugoniden geprägt, die danach strebten, das Abkommen von 933 rückgängig zu machen, und zum anderen durch eine dauerhafte deutsche Vormundschaft. Konrad war ein Mündel des kaiserlichen Hofes gewesen, und seine Schwester Adelheid wurde die zweite Gemahlin Ottos des Großen. Sie war eine großzügige Wohltäterin und wurde später heilig gesprochen. Adelheid spielte eine wichtige Rolle als Regentin (reg. 983–994) während der Minderjährigkeit ihres Sohnes. Dessen späteres Leben stand im Übrigen im Schatten der mit der Jahrtausendwende verbundenen Befürchtungen über das Weltende. »Das 10. Jahrhundert war die Eisenzeit der Welt; das Schlimmste war eingetreten, und nun sollte der Tag des Gerichts und der Abrechnung kommen.«64 Seuchen und Hungersnöte kündigten die Katastrophe an, die nie eintrat. Einige Historiker vermitteln andere Eindrücke. »Das milde Klima des Südens … brachte die ersten Früchte der Ritterlichkeit hervor und die dazugehörigen Lieder«, schrieb enthusiastisch ein Forscher im 19. Jahrhundert. »Während des größten Teils des 10. Jahrhunderts, als Nordfrankreich von inneren Unruhen erschüttert wurde, erfreuten sich die Provence und die nichtfranzösischen Teile des historischen Burgund einer Phase der Ruhe unter der maßvollen Herrschaft von Konrad dem Friedfertigen.«65
Konrads Sohn Rudolf III. war ebenfalls von deutscher Unterstützung abhängig. Als der Adel rebellierte, wurde er von einer deutschen Streitmacht gerettet, die Adelheid entsandt hatte, denn das Königreich der beiden Burgund verfügte über keine starke Zentralgewalt.