Verschwundene Reiche. Norman Davies
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Im Vertrag von Verdun erhielt dieses neue Territorium des Westfrankenreiches den Namen Regnum Burgundiae, doch diese Bezeichnung war juristisch praktisch bedeutungslos, denn dem Gebiet wurde lange Zeit kein besonderer Status verliehen. Eine dauerhafte Lösung wurde erst in den 880er-Jahren gefunden, als im Westfrankenreich die Verwaltungsstrukturen reformiert und Herzogtümer und Grafschaften gebildet wurden. Dabei wurden sieben Prinzipate eingerichtet, an deren Spitze ein dux (Herzog) stand, dem eine Vielzahl kleiner und großer Grafen untergeordnet war. Das Herzogtum Burgund nahm nun seinen Platz ein neben Aquitanien, der Bretagne, der Gascogne, der Normandie, Flandern und der Champagne. Es verkörperte Burgund Nr. X auf der Liste von Bryce, wenngleich es chronologisch das vierte burgundische Reich war.
Erwartungsgemäß blieb das Herzogtum nicht von Konflikten verschont. Die Hauptfigur in einer Reihe von komplizierten Auseinandersetzungen war Richard Justitiarius, genannt »der Gerichtsherr« (um 850–921), ein Bruder der westfränkischen Königin Richildis, der Ehefrau von Karl dem Kahlen. Richard, dessen Familiensitz in Autun lag, reiste nach Rom, als sich Karl um die Kaiserwürde bemühte, wurde schließlich mit der Verwaltung des (westfränkischen) Burgund beauftragt und erhielt zunächst den Titel marchio (Marquis oder Markgraf) und später den Titel Herzog. Berühmt wurde sein Bekenntnis auf dem Sterbebett: »Ich sterbe als Räuber, aber ich habe das Leben ehrbarer Männer verschont.«
Nach 1004 übernahmen die französischen Könige die direkte Herrschaft über das Herzogtum von den Nachkommen des Gerichtsherrn. Manchmal wurde das Herzogtum als Lehen vergeben, andere Male unterstand es dem König persönlich. Bis 1361 gab es zwölf Herzöge, angefangen mit Robert le Vieux (gest. 1076) bis zu Philippe von Rouvres (reg. 1346–61). Zu den abhängigen Vasallen gehörten die Grafen von Chalons, von Mâcon, Autun, Nevers, Avallon, Tonerre, Senlis, Auxerre, Sens, Troyes, Auxonne, Montbéliard und Bar; alle diese Fürstenhäuser können auf eine lange, wechselvolle Geschichte zurückblicken. Später wurde das Verwaltungszentrum des Herzogtums nach Dijon verlegt, das an einem nach Süden fließenden Nebenfluss der Saône liegt, der passenderweise Bourgogne heißt und über das Plateau de Langres den Zugang zur Champagne oder flussaufwärts zum Oberlauf der Seine und nach Paris ermöglicht.53
Im Herzogtum Burgund gab es bereits altehrwürdige Klöster, doch nun kamen noch neue hinzu. Die 910 gegründete Abtei Cluny, die der Regel des hl. Benedikt folgte, gilt als Ausgangspunkt bedeutender abendländischer Klosterreformen; sie war die Alma Mater von drei oder vier Päpsten.54 Die Abtei Tournus, ebenfalls im 10. Jahrhundert gegründet, bewahrte die Überreste des hl. Philibert, der den Märtyrertod gestorben war. Die Abtei Cîteaux, das Mutterhaus des Zisterzienserordens, entstand im Jahr 1098. Der hl. Bernhard von Clairvaux (1090–1153), ein späterer Förderer der Tempelritter, trat als junger Mann in dieses Kloster ein,55 und am 31. März 1146 rief er im großen Saal der Abtei Vézelay zum Zweiten Kreuzzug auf. Die Abtei Pontiguy am Fluss Yonne stammt ebenfalls aus der Zeit Bernhards.
Den Mönchen dieser burgundischen Klöster wird auch die Wiederbelebung der in Vergessenheit geratenen Weinbaukultur zugeschrieben. Sie waren nicht die Pioniere des Weinbaus, denn schon zu Zeiten König Guntrams wird von der Schenkung eines Weinbergs an die Kirche berichtet. Doch die Mönche konsumierten Wein bei der heiligen Kommunion, und an den Hängen der Côte d’Or oder der »Côte de Baune« bauten sie zielstrebig Weingärten von unübertroffener Qualität auf; sie erfanden sowohl die Produktionsmethoden als auch die Fachbegriffe des cru, des terroir und des clos, die zeitlose Gültigkeit erlangen sollten. Die roten Burgunderweine werden aus der Traube Pinot Noir gewonnen; die meisten Lagen, die heute die Liste der Grand Crus anführen, wie etwa die Domaine de la Romanée-Conti in der Nähe von Vosne, die einst zur Abtei Saint-Vivant gehörte, Aloxe-Corton, die vom Domkapitel Autun in Bewirtschaftung genommen wurde, oder Chambertin, die von der Abtei de Bèze begründet wurde – sie alle begannen als mittelalterliche kirchliche Unternehmungen. Die Weißweine aus Chablis wurden von den Mönchen von Pontigny entwickelt. Der Clos de Vougeot, der erstmals von den Mönchen von Cîteaux angebaut wurde, hatte von 1153 bis zur Französischen Revolution nur einen einzigen Eigentümer.56
Chanter le vin (»den Wein durch den Gesang feiern«) gehört seit jeher zu den kulturellen Traditionen des Herzogtums Burgund. Viele der zeitlosen französischen Trinklieder, wie beispielsweise »Chevalier de la Table Ronde« oder »Boire un petit coup« stammen aus Burgund; in ihnen wird eine Kultur des guten Weins, des guten Essens, der guten Gesellschaft und nicht zuletzt der guten Unterhaltung gepflegt:
Le Duc de Bordeaux ne boit qu’ du Bourgogne,
mais l’Duc de Bourgogne, lui, ne boit que de l’eau,
ils ont aussitôt sans vergogne
un verr’ de Bourgogne contr’ le port de Bordeaux.
(»Der Herzog von Bordeaux trinkt nur Bourgogne,/aber der Herzog von Bourgogne trinkt nur Wasser/daher hatte keiner Grund zu klagen, als sie tauschten/ein Glas Bourgogne gegen den Port aus Bordeaux.«)57
Unterdessen war östlich des aufstrebenden Herzogtums der Großteil des früheren burgundischen Königreiches im Chaos versunken. Nach dem Tod Lothars I. im Jahr 855 folgten mehrere Teilungen, Wiedervereinigungen und erneute Teilungen. Ein kurzlebiges territoriales Gebilde jedoch hinterließ dauerhafte Spuren. Unter Lothar II. (reg. 835–869) wurden die südlichen und westlichen Bezirke einschließlich Lyon und Vienne zu einem neuen Regnum Provinciae zusammengeschlossen, das dadurch die Bezeichnung »Niederburgund« erhielt. In der Folge nannten sich die im Norden und Nordosten gelegenen Gebiete »Hochburgund«. Die Grenzen veränderten sich nach kurzer Zeit, die Namen aber blieben.
Das Königreich Provence, das 879 geschaffen wurde und auch Königreich Niederburgund – le Royaume de Basse-Bourgogne – genannt wurde, hatte mit einer kurzen Unterbrechung 54 Jahre Bestand. Sein Territorium umfasste das Rhône-Tal von Lyon bis nach Arles und die ursprüngliche römische Provinz bis zum Fuß der Meeresalpen. Kulturell war es zur Hälfte burgundisch und zur anderen Hälfte provenzalisch geprägt, wodurch eine neue Sprache entstand, das Frankoprovenzalische. Das bedeutendste Verwaltungszentrum war Arelate (Arles). Dies war der fünfte burgundische Staat und das vierte Königreich (nach Bryce die Nr. III).
Die ersten Jahre dieses Reiches wurden geprägt von Graf Boso (reg. 879–887), der ebenso wie sein jüngerer Bruder Richard Justitiarius dank seiner Verwandtschaft mit dem Frankenkönig und künftigen Kaiser Karl dem Kahlen in die politische Führungsschicht aufsteigen konnte. Er war zunächst Graf von Lyon, doch während Karls Italienfeldzug 875–877 wurde ihm das Amt eines missus dominicus (Gesandter oder Botschafter) übertragen, und er konnte ein enges Verhältnis zum Papst aufbauen. Papst Johannes VIII. adoptierte ihn als Sohn, und Boso begleitete den Pontifex 878 auf seiner Reise in das Westfrankenreich. Als das Westfrankenreich im Jahr darauf innerhalb von 18 Monaten den zweiten König aufgrund einer plötzlichen Krankheit verlor, fasste Boso den Entschluss, sich selbstständig zu machen. Er kehrte in die Provence zurück und überzeugte die dortigen Bischöfe und die Großen des Reiches, ihn auf einer Synode durch eine »freie Wahl« zum König von Niederburgund zu proklamieren. Er bediente sich der Formel »Dei Gratia id quod sum« (»Dank der Gnade Gottes bin ich, was ich bin«), die seine Auserwähltheit zum Ausdruck bringen sollte. Bosos Handstreich stieß auf Widerstand, doch letztlich konnte er sich behaupten. Er starb 887 und wurde in Vienne beigesetzt; aus seiner Familie, den »Bosoniden«, gingen schließlich drei einflussreiche Adelsgeschlechter hervor.58 Zwei seiner Verwandten regierten nach ihm die Provence: sein Sohn, Ludwig der Blinde (reg. 887–928), der auch König von Italien und nomineller Kaiser war, und sein Schwiegersohn Hugo von Arles (reg. 928–933).