Verschwundene Reiche. Norman Davies

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Verschwundene Reiche - Norman Davies

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Frankreichs über ein geschütztes Einfallstor nach Italien.

      Im Vertrag von Verdun erhielt dieses neue Territorium des Westfrankenreiches den Namen Regnum Burgundiae, doch diese Bezeichnung war juristisch praktisch bedeutungslos, denn dem Gebiet wurde lange Zeit kein besonderer Status verliehen. Eine dauerhafte Lösung wurde erst in den 880er-Jahren gefunden, als im Westfrankenreich die Verwaltungsstrukturen reformiert und Herzogtümer und Grafschaften gebildet wurden. Dabei wurden sieben Prinzipate eingerichtet, an deren Spitze ein dux (Herzog) stand, dem eine Vielzahl kleiner und großer Grafen untergeordnet war. Das Herzogtum Burgund nahm nun seinen Platz ein neben Aquitanien, der Bretagne, der Gascogne, der Normandie, Flandern und der Champagne. Es verkörperte Burgund Nr. X auf der Liste von Bryce, wenngleich es chronologisch das vierte burgundische Reich war.

      Erwartungsgemäß blieb das Herzogtum nicht von Konflikten verschont. Die Hauptfigur in einer Reihe von komplizierten Auseinandersetzungen war Richard Justitiarius, genannt »der Gerichtsherr« (um 850–921), ein Bruder der westfränkischen Königin Richildis, der Ehefrau von Karl dem Kahlen. Richard, dessen Familiensitz in Autun lag, reiste nach Rom, als sich Karl um die Kaiserwürde bemühte, wurde schließlich mit der Verwaltung des (westfränkischen) Burgund beauftragt und erhielt zunächst den Titel marchio (Marquis oder Markgraf) und später den Titel Herzog. Berühmt wurde sein Bekenntnis auf dem Sterbebett: »Ich sterbe als Räuber, aber ich habe das Leben ehrbarer Männer verschont.«

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      Im Herzogtum Burgund gab es bereits altehrwürdige Klöster, doch nun kamen noch neue hinzu. Die 910 gegründete Abtei Cluny, die der Regel des hl. Benedikt folgte, gilt als Ausgangspunkt bedeutender abendländischer Klosterreformen; sie war die Alma Mater von drei oder vier Päpsten.54 Die Abtei Tournus, ebenfalls im 10. Jahrhundert gegründet, bewahrte die Überreste des hl. Philibert, der den Märtyrertod gestorben war. Die Abtei Cîteaux, das Mutterhaus des Zisterzienserordens, entstand im Jahr 1098. Der hl. Bernhard von Clairvaux (1090–1153), ein späterer Förderer der Tempelritter, trat als junger Mann in dieses Kloster ein,55 und am 31. März 1146 rief er im großen Saal der Abtei Vézelay zum Zweiten Kreuzzug auf. Die Abtei Pontiguy am Fluss Yonne stammt ebenfalls aus der Zeit Bernhards.

      Den Mönchen dieser burgundischen Klöster wird auch die Wiederbelebung der in Vergessenheit geratenen Weinbaukultur zugeschrieben. Sie waren nicht die Pioniere des Weinbaus, denn schon zu Zeiten König Guntrams wird von der Schenkung eines Weinbergs an die Kirche berichtet. Doch die Mönche konsumierten Wein bei der heiligen Kommunion, und an den Hängen der Côte d’Or oder der »Côte de Baune« bauten sie zielstrebig Weingärten von unübertroffener Qualität auf; sie erfanden sowohl die Produktionsmethoden als auch die Fachbegriffe des cru, des terroir und des clos, die zeitlose Gültigkeit erlangen sollten. Die roten Burgunderweine werden aus der Traube Pinot Noir gewonnen; die meisten Lagen, die heute die Liste der Grand Crus anführen, wie etwa die Domaine de la Romanée-Conti in der Nähe von Vosne, die einst zur Abtei Saint-Vivant gehörte, Aloxe-Corton, die vom Domkapitel Autun in Bewirtschaftung genommen wurde, oder Chambertin, die von der Abtei de Bèze begründet wurde – sie alle begannen als mittelalterliche kirchliche Unternehmungen. Die Weißweine aus Chablis wurden von den Mönchen von Pontigny entwickelt. Der Clos de Vougeot, der erstmals von den Mönchen von Cîteaux angebaut wurde, hatte von 1153 bis zur Französischen Revolution nur einen einzigen Eigentümer.56

      Chanter le vin (»den Wein durch den Gesang feiern«) gehört seit jeher zu den kulturellen Traditionen des Herzogtums Burgund. Viele der zeitlosen französischen Trinklieder, wie beispielsweise »Chevalier de la Table Ronde« oder »Boire un petit coup« stammen aus Burgund; in ihnen wird eine Kultur des guten Weins, des guten Essens, der guten Gesellschaft und nicht zuletzt der guten Unterhaltung gepflegt:

      Le Duc de Bordeaux ne boit qu’ du Bourgogne,

      mais l’Duc de Bourgogne, lui, ne boit que de l’eau,

       ils ont aussitôt sans vergogne

       un verr’ de Bourgogne contr’ le port de Bordeaux.

      (»Der Herzog von Bordeaux trinkt nur Bourgogne,/aber der Herzog von Bourgogne trinkt nur Wasser/daher hatte keiner Grund zu klagen, als sie tauschten/ein Glas Bourgogne gegen den Port aus Bordeaux.«)57

      Unterdessen war östlich des aufstrebenden Herzogtums der Großteil des früheren burgundischen Königreiches im Chaos versunken. Nach dem Tod Lothars I. im Jahr 855 folgten mehrere Teilungen, Wiedervereinigungen und erneute Teilungen. Ein kurzlebiges territoriales Gebilde jedoch hinterließ dauerhafte Spuren. Unter Lothar II. (reg. 835–869) wurden die südlichen und westlichen Bezirke einschließlich Lyon und Vienne zu einem neuen Regnum Provinciae zusammengeschlossen, das dadurch die Bezeichnung »Niederburgund« erhielt. In der Folge nannten sich die im Norden und Nordosten gelegenen Gebiete »Hochburgund«. Die Grenzen veränderten sich nach kurzer Zeit, die Namen aber blieben.

      Das Königreich Provence, das 879 geschaffen wurde und auch Königreich Niederburgund – le Royaume de Basse-Bourgogne – genannt wurde, hatte mit einer kurzen Unterbrechung 54 Jahre Bestand. Sein Territorium umfasste das Rhône-Tal von Lyon bis nach Arles und die ursprüngliche römische Provinz bis zum Fuß der Meeresalpen. Kulturell war es zur Hälfte burgundisch und zur anderen Hälfte provenzalisch geprägt, wodurch eine neue Sprache entstand, das Frankoprovenzalische. Das bedeutendste Verwaltungszentrum war Arelate (Arles). Dies war der fünfte burgundische Staat und das vierte Königreich (nach Bryce die Nr. III).

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