Verschwundene Reiche. Norman Davies
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In einer Römersiedlung in der Nähe von Genf wurden die Fundamente eines burgundischen Königspalasts entdeckt, der wahrscheinlich um das Jahr 500 entstanden ist und eine Halle und eine christliche Kapelle umfasst.26 Die Historizität von König Godomar wird durch einen Grabstein im alten Klosterfriedhof von Offranges in der Nähe von Evian bezeugt:
In hoc tumulo requiescat bonae memoriae errovaccus qui vixit anns XIII et mensis III et transit X KL septembris mavurtio viro clr conss sub unc conss brandobrigi redimitionem a dnmo gudonaro rege acceperunt.27
Der erste Teil der Inschrift ist klar. Ein Junge namens Ebrovaccus, 13 Jahre und vier Monate alt, der »in diesem Hügel liegt«, starb, als Mavortius Konsul war. Der zweite Teil hat zu vielerlei Spekulationen angeregt. »Godomar war König«, ein Stamm mit keltisch klingendem Namen, die Brandobrigen, wurde entweder freigelassen oder freigekauft. Die frühesten burgundischen Münzen wurden Anfang des 6. Jahrhunderts mit kaiserlicher Lizenz in Ravenna geprägt; sie zeigen Gundobads Monogramm und den Kopf des römischen (byzantinischen) Kaisers. Somit bringen sie sehr anschaulich den Status eines rex als eines anerkannten kaiserlichen Stellvertreters zum Ausdruck.28
Die Burgunderkönige betrieben eine geschickte Heiratspolitik. Gundioch verheiratete seine Schwester mit Ricimer (405–472), der zeitweilig Gehilfe von Flavius Aetius und de facto Gebieter des sterbenden Reiches war. In der folgenden Generation wurde Chilperichs Tochter Clothilda (474–545) mit Chlodwig verheiratet, dem König der Franken, zwölf Jahre bevor dieser bei Vouillé die Westgoten besiegte (siehe dazu S. 25ff.) Clothilda wurde später heilig gesprochen, weil sie ihren Gemahl dazu gebracht hatte, das Christentum anzunehmen. Sie ist in der Kirche St. Geneviève in Paris bestattet.29
Chlothildas Onkel Gundobad, der sich mit dem Titel eines römischen Patriziers schmückte, erlangte die volle Kontrolle über sein Erbe erst nach einem dreißigjährigen Familienstreit, im Zuge dessen das burgundische Königreich aufgeteilt wurde und drei Zentren – Lugdunum, Julia Vienna und Genava – die Regierungsgewalt beanspruchten. Dieser Bürgerkrieg schwächte den jungen Staat, mit dem die Franken und die Westgoten daher leichtes Spiel hatten.30 Gundoband verdankte seine römische Laufbahn seinem Verwandten Ricimer. Ihm wurde die kurzlebige Ehre zuteil, einen Kaiser, Glycerius, auf den Thron in Ravenna zu setzen. Doch später war er die meiste Zeit damit beschäftigt, sich mit seinen Verwandten zu streiten. Immerhin konnte er sich durch Tributzahlungen die Franken vom Hals halten. Sein Bruder Godegisel konnte sich, mit Chlothildas Mutter Caretana an seiner Seite, bis zum Ende des Jahrhunderts in Genava behaupten. Danach stellte er die Tributzahlungen an die Franken ein und konzentrierte sich auf den Aufbau der Kirche und die Gesetzgebung. Zwei Gesetzesbücher werden ihm zugeschrieben, das Lex Romana Burgundiorum und das Lex Gundobada.
Der Burgundische Codex (oder die Codices), der in 13 Manuskripten erhalten geblieben ist, ist bezeichnend für diese Zeit, in der die germanischen Stämme das Christentum annahmen, schriftkundig wurden und Gesetze kodifizierten.31 Anders als der Codex Euricianus (siehe oben S. 34) muss er als eine Ergänzung zum bestehenden römischen Recht betrachtet werden; er besteht aus einer Sammlung von Gewohnheitsrechten (mores) für die Burgunder und einer Reihe von Statuten (leges), die für die ehemaligen römischen Bürger galten, die unter den Burgundern lebten. Die moderne Variante des Burgundischen Codex besteht aus 105 »Konstitutionen« und vier zusätzlichen Verordnungen. Der Großteil der Gesetze wurde in Lugdunum von Gundobad verkündet und später unter Sigismund überarbeitet; sie behandeln eine Vielzahl von Themen, angefangen mit Geschenken, Mord und Befreiung der Sklaven bis zu Weinbergen, Eseln und Ochsen, die in Pfand gegeben werden. Für nahezu alle Vergehen wird ein Wiedergutmachungspreis genannt und eine weitere Summe, die als Bußgeld oder Strafe zu zahlen ist:
XII Mädchenraub
Wenn jemand ein Mädchen raubt, soll er gezwungen werden, den neunfachen Preis für ein solches Mädchen zu zahlen und er soll eine Strafe zahlen, die sich auf zwölf Solidi beläuft.
Wenn ein Mädchen, das geraubt wurde, unversehrt zu seinen Eltern zurückkehrt, soll der Entführer das sechsfache Wergeld für das Mädchen aufbringen; zudem soll die Strafe auf zwölf Solidi festgesetzt werden.
Wenn jedoch das Mädchen den Mann aus freiem Willen erwählt und in sein Haus kommt und er mit ihr verkehrt, soll er den dreifachen Brautpreis entrichten; wenn sie darüber hinaus unversehrt in ihr Elternhaus zurückkehrt, soll ihm alle Schuld erlassen werden.32
In einer dieser Konstitutionen werden ausführlich Regeln zum Aufstellen von Wolfsfallen mit gespannten Bogensehnen (tensuras) beschrieben (XLVI). In anderen wird festgelegt, welche Maßnahmen gegen Juden zu ergreifen seien, »die ihre Hand gegen einen Christen erheben« (CII), oder es wird eine Verdoppelung der Geldstrafe für Diebstähle oder andere Vergehen in Weingärten bei Nacht verfügt.33 Man beschäftigte sich ausführlich mit der Festlegung der Strafmaße:
– Für die Tötung eines Hundes: 1 Solidus
– Für den Diebstahl eines Schweins, Schafes, einer Ziege oder eines Bienenvolks: 3 Solidi
– Für die Vergewaltigung einer Frau: 12 Solidi
– Für das Abschneiden der Haare einer Frau ohne Grund: 12 Solidi
– Für die Ermordung eines Sklaven: 30 Solidi
– Für die Ermordung eines Zimmermanns: 40 Solidi
– Für die Ermordung eines Hufschmieds: 50 Solidi
– Für die Ermordung eines Silberschmieds: 100 Solidi
– Für die Ermordung eines Goldschmieds: 200 Solidi34
(Frauen wurden die Haare abgeschnitten, damit sie als Kriegerinnen kämpfen konnten.) Bis auf einige burgundische Begriffe wie Wergeld oder Wittimon war der Codex auf Lateinisch abgefasst. Mehrere Grafen bezeugten ihn mit ihren Siegeln, wodurch eine seltene Liste burgundischer Eigennamen entstand:
Abcar Unnan Sunia Wadahamar Aveliemer | Viliemer Hildegern Gundemund Avenahar Sigisvuld | Widemer Walest Annemund Hildeulf Gundeful | Silvan Vulfia Coniarc Usgild Effo…35 |
Sigismund, einem Sohn von Gundobad, der das Christentum annahm und später von der Kirche heilig gesprochen wurde, wird häufig die Bekehrung seines gesamten Volkes zum Christentum zugeschrieben. Zusammen mit seinen Brüdern führte er einen erfolglosen Feldzug gegen die Franken, besser jedoch gelang ihm die Unterdrückung der arianischen Enklaven, die sich nach der Teilung des Reiches hatten halten können. Es wird angenommen, dass er seinen kleinen Sohn erdrosseln ließ, um ihn von der Thronfolge auszuschließen, und dass er, nachdem er von den Franken entführt worden war, in einem Brunnen in Coulmiers in der Nähe von Orléans sein Ende fand. Er wurde zum Märtyrer erklärt, und der Kult um seine Person verbreitete sich in weiten Teilen Europas.36 Zu seinen bedeutendsten Hinterlassenschaften gehört eine ausführliche Korrespondenz (um 494–523) mit seinem Chefberater, dem Erzbischof (und späteren Heiligen) Avitus von Vienne37 sowie die Gründung der Abtei Aganaum (heute St. Maurice-en-Valais), einem Ort des laus perennis, des »unaufhörlichen Gotteslobs«.38
Die Vorherrschaft des Katholizismus in Burgund wurde 517 durch das Konzil von Epaon (vermutlich Albon in der heutigen Dauphiné) bekräftigt,